Als allererstes nimmt sie die Brosche ab, die sie jeden Tag getragen hat, seit sie sie von ihm bekam. Sie legt sie in die Schachtel in der Kommode. Noch weiß sie nicht, ob sie die behält. Tragen wird sie die Brosche auf keinen Fall mehr. Dann holt sie die Briefe von ihm hervor, liest sie und kann gar nicht mehr verstehen, daß sie derselbe Mensch geschrieben hat wie den Brief, den sie heute bekam. Aus einem plötzlichen sentimentalen Gefühl heraus überträgt sie seine Gedichte in ihr Tagebuch.
Zeitig am Samstagabend wartet Julie am Kai darauf, daß der Dampfer anlegt. Sie steht zusammen mit mehreren jungen Leuten, denen sie erzählt hat, wen sie erwartet. Ihnen ist anzumerken, daß sie neugierig sind. Nicht jeden Tag kommt ein fremdes Mädchen in den Ort. Auch sonst ist es üblich, daß sie sich einfinden, wenn der Dampfer kommt. Diese Abwechslung dürfen sie sich nicht entgehen lassen, denn allzu viel gibt es sonst nicht davon.
»Du machst doch heute abend bestimmt noch einen Spaziergang mit deiner Schwester?« fragt Erik.
»Ich glaube nicht. Aber vielleicht morgen, falls gutes Wetter ist.«
Und es sieht ganz danach aus, daß das Wetter am Wochenende schön wird. Fast die ganze Woche über hat es geregnet und gestürmt, aber heute ist das Wetter umgeschlagen, ein warmer Wind von Südost schiebt die Wolken über den dunklen Himmel. Sobald die Wolkendecke aufreißt, leuchtet der Abend im Mondschein und im Licht der ersten Sterne, die sich jetzt zeigen.
Als das Schiff im hellen Schein der Kaibeleuchtung herangleitet, sieht sie Synna ganz vorne in der Reihe der Passagiere stehen, die an Land wollen. An dem braunen Mantel mit dem Persianerkragen ist sie leicht zu erkennen. Auf dem Kopf trägt sie eine weiße wollene Strickmütze. Julie bekommt unbändige Lust, der Schwester um den Hals zu fallen, aber das tut sie hier in aller Öffentlichkeit natürlich nicht, wo sie alle dastehen und gaffen. Schließlich weiß sie, was sich gehört, und so begnügt sie sich damit, Synna die Hand zu geben und sie willkommen zu heißen.
Nach Ankunft des Dampfers hält Herr Fuglevik das Geschäft eine Weile geöffnet, und nun ziehen alle Männer dorthin. Julie sagt, daß sie auch kurz in den Laden muß, nur auf einen Sprung. Synna will draußen warten, aber Julie meint, sie soll mit reinkommen, und zieht ihr die Mütze vom Kopf und steckt sie sich in die Tasche.
»Warum machst du denn das?«
»Weil ich es eben so will.«
Ausgelassen kichern sie dabei, und alles ist wie früher, so als hätten sie sich erst gestern getrennt. Was für ein Glück, daß Synna endlich hier ist.
Die Männer verstummen, als die beiden Mädchen zur Tür hereinkommen. Synna wird rot, aus Verlegenheit und von dem Wind, der ihre Wangen und die Nasenspitze schon gefärbt hatte, während sie an Deck stand und darauf wartete, daß der Dampfer am Kai anlegte. Als Julie ihr die Mütze vom Kopf zog, ist ihr großer Knoten im Nacken in Unordnung geraten, ungebändigt fallen ihr die Locken in die Stirn und über die Wangen. Aber als Julie die Klappe des Ladentisches anhebt und Synna mit dahinter treten läßt, hat sie das Gefühl, daß ihr die ganze Welt gehört. Sie fragt Herrn Fuglevik, ob er Hilfe braucht, aber er sagt nein und das wäre ja noch schöner, jetzt, wo sie Besuch hat und alles. Nein, sie soll nun ihr Wochenende genießen. Trotzdem läßt sie sich Zeit und schafft ein bißchen Ordnung auf dem Verkaufstisch. Sie will, daß Odd und Erik und die anderen alle sehen, was für eine schöne Schwester sie hat. Denn sie ist ja so stolz auf sie.
Von Ane werden sie mit einem gedeckten Abendbrottisch empfangen. Mit Herrn Fuglevik und Ane kann man sich gut unterhalten, und sie beziehen Synna in das Gespräch ein. Herr Fuglevik erkundigt sich nach dem Vater und nach allem, was sonst bei ihnen in der Gegend passiert. Und ob dort die Spanische Grippe geherrscht hat. Da erzählt Synna, daß die Mutter und Johanne krank waren. Ein Anflug der Spanischen vielleicht. Aber bestimmt war es nur eine starke Erkältung. Ansonsten hat die Krankheit auch dort Opfer gefordert, doch nun sieht es so aus, als würde sie abflauen. Erst jetzt merkt Julie, daß sie nie daran gedacht hat, jemand zu Hause könnte auch betroffen sein. So viel gab es zu tun, als es hier am schlimmsten war.
»Aber ich wußte gar nicht, daß Mama und Johanne krank waren.«
»Nein, wir wollten dich nicht unnötig beunruhigen, und so schlimm war es ja nicht.«
Erst als sie oben in ihrem Zimmer sind, kann sie endlich tun, was sie am liebsten getan hätte, als Synna an Land kam, sie umfaßt sie und tanzt mit ihr im Kreis durch die Stube.
»Ach, wenn du wüßtest, wie glücklich ich bin!«
»Du hast es aber schön hier!«
»Ja, aber habe ich dir das nicht geschrieben?«
»Ich dachte, du übertreibst ein bißchen. Aber jetzt könnte ich dich fast beneiden.«
»O nein, das darfst du nicht sagen, sonst bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Mama wollte ja, daß du hergehst und nicht ich.«
»Na, so sehr, daß ich hier sein wollte, beneide ich dich nun auch wieder nicht. Wo es mir jetzt gerade so gutgeht . . .«
»Ich verstehe, wegen Hans, stimmt’s?«
»O ja, du weißt gar nicht, wie . . .«
»Nein, bestimmt nicht«, sagt Julie, und plötzlich steigt in ihr alles hoch, was sie in den letzten Tagen verdrängt hat. Ingebrikt. Ein innerer Schmerz, den sie nicht wahrhaben will, der sie jetzt aber, da sie Synnas Glück sieht, überkommt und ihr dicke Tränen in die Augen treibt.
»Aber was ist denn mit dir, Julie? Hab’ ich was Falsches gesagt?«
Sie hatte Synna von dem Wochenende, als er hier war, geschrieben, auch von ihren Zweifeln. Jetzt gibt sie Synna den Brief, ihre Abschrift, die sie angefertigt hat, bevor sie ihn an Ingebrikt zurückschickte. Irgendwie hat sie das Gefühl, daß Synna selber lesen muß, was er geschrieben hat, daß das stärker wirkt, als wenn sie nur davon hört.
»Nein, so was . . .«, sagt Synna. »Wie kann er denn so etwas schreiben? Nein, Julie, den mußt du einfach vergessen!«
»Aber es kann ja sein, daß ich mich auch nicht so ganz richtig verhalten habe.«
»Hast du ihm denn irgend etwas versprochen?«
»Nein, ich fand mich zu jung dafür.«
»Das habe ich dir schon immer gesagt, aber du wolltest ja nichts davon hören. Ich hatte schon lange den Eindruck, daß Ingebrikt ziemlich arrogant und selbstgefällig sein kann.«
»Ich kenne ihn besser als du. Wir haben uns doch gut verstanden.«
»Wenn er nur bestimmen durfte, nicht?«
»Aber er ist immer so fröhlich und gut gelaunt, es macht Spaß, mit ihm zusammen zu sein.«
»Immer?«
»Na ja, fast immer.«
»War es nicht eher so, daß du fügsam und sanft sein mußtest, damit er nett zu dir ist?«
»Nein, das . . .«
»Aber genau das schreibt er hier. Wenn du ihm zuerst geschrieben hättest, hätte er geantwortet. Das Geburtstagsgeschenk von ihm solltest du an dem Abend, als er hier war, erst bekommen, nachdem du seine Erwartungen erfüllt hattest. Begreifst du nicht, wie das aussehen sollte, Julie?«
»Er ist so ein schöner Mann . . .«
»Jetzt mach aber mal einen Punkt. Schön! Höchste Zeit, daß du erwachsen wirst, damit du endlich begreifst, daß Äußerlichkeiten nichts über den Charakter eines Menschen aussagen. Ich glaube, Ingebrikt wäre dein Unglück. Du mußt ihn aus deinen Gedanken streichen, und versprich mir, daß du diesem Menschen, der so gemein zu dir ist, keine Träne mehr nachweinst.«
Julie zeigt Synna das letzte Gedicht, das sie ihm geschickt hat.
»War es dumm von mir, ihm das zu schicken?«
»Du bist hoffnungslos romantisch, aber getan ist getan, und natürlich wird er das Gedicht zu seinen Gunsten auslegen, er wird es als Eingeständnis von dir ansehen. Nein, Julie, du solltest froh sein, daß du ihn los bist.«
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