Sie gestand dem schönen Mann, der ihr gegenübersaß, dass das Haus, in dem sie wohnte, das Eigentum ihrer Schwester sei und dass sie bis vor Kurzem in einer Einzimmerwohnung in der Nähe des Frisiersalons gewohnt hätte. Sie habe aber die Enge nicht mehr ausgehalten und deshalb das Angebot dankbar angenommen, ein Jahr das Häuschen mit dem Garten zu hüten, während ihre Schwester in Vancouver als Reporterin für eine Tageszeitung arbeitete. Ruth hätte einen Tapetenwechsel gebraucht, sie wollte Elina überreden mitzukommen, aber ihre Schwester mochte ihre Arbeit als Friseurin hier. Außerdem wäre der Wunsch, ins Ausland zu reisen, nicht der ihre, sondern Ruths.
Elina erzählte oberflächlich von ihrer Kindheit, in der sie und Ruth sich alleine durchboxen mussten, bis sie beide beruflich Fuß gefasst hatten. Sie waren stolz darauf, ein geregeltes Einkommen zu haben, was vieles in ihrem Leben erleichterte.
Laurenz hörte gespannt zu, nippte an seinem Weinglas und stocherte mit der Gabel in seinem Dessert herum. Er erkundigte sich vorsichtig nach den Eltern der beiden Mädchen. Elina traten die Tränen in die Augen, nein, sie konnte und wollte nicht über ihre Mutter und ihren Vater sprechen, nicht jetzt.
Laurenz legte verständnisvoll die Hand auf ihre Schulter, was in Elina einen weiteren Gefühlsschwall hervorrief, seine Hand auf ihrer Haut war Balsam für die Seele. Einfühlsam winkte er dem Kellner zum Bezahlen. Sie ärgerte sich, dass ihr Geheule den Abend so abrupt enden ließ. Laurenz war ein Gentleman und brachte sie umgehend zum Wagen. Auf der Fahrt zurück bedankte er sich abermals für seinen Haarschnitt am Morgen.
„So, das war es. Jetzt weiß er, dass ich eine dumme Gans bin. Ab jetzt wird er nichts mehr mit mir zu tun haben wollen“, dachte Elina bei sich.
Warum hatte sie Laurenz nicht ermutigt, von seinem Leben zu sprechen, während sie interessiert genickt hätte? Vielleicht wäre dann alles anders verlaufen. Angestrengt überlegte sie, wie sie das wieder in Ordnung bringen konnte. Hatte sie noch eine Chance? Konnte sich das Blatt noch zu ihren Gunsten wenden? Vielleicht war sie einfach nicht für Beziehungen jeglicher Art geschaffen ...
Zu Hause angekommen hielt Laurenz Elina die Tür seines Sportwagens auf und geleitete sie zum Eingang. Er hob seine Hand. „Darf ich?“ Sie nickte und schloss kurz die Augen. Er strich ihr vorsichtig über die Wange, sodass Elinas Knie abermals weich wurden. Sie war verwundert, hatte sie doch nicht alles vermasselt? Sie badete in seinen dunklen Samtaugen. „Ich möchte dich morgen gerne wiedersehen, am liebsten gleich in der Früh, damit wir den Tag nutzen können. Bist du einverstanden?“
Elina hätte am liebsten laut „Ja!“ geschrien, begnügte sich aber mit einem begeisterten Lächeln. Irgendetwas hatte sie wohl doch richtig gemacht, innerlich führte sie einen Stepptanz auf.
Sie verabredeten sich für den nächsten Tag zum Brunch bei Elina. Gott sei Dank musste sie diesen Freitag nicht arbeiten. Ihre Chefin Savina Cabello gönnte sich ein verlängertes Wochenende, um zu verreisen. Erst am Dienstag musste Elina wieder bei der Arbeit erscheinen, sie freute sich innerlich über diese Fügung. So konnte sie mehr Zeit mit Laurenz verbringen, nur in seiner Nähe zu sein, reichte ihr schon aus. Endlich jemanden zum Reden zu haben, wenn auch nur vorübergehend, war das schönste Gefühl auf Erden.
Der kleine Kuss, den er zum Abschied auf Elinas Stirn drückte, ließ ihr endgültig die Röte ins Gesicht steigen.
Zärtlich flüsterte er ihr noch ein „Auf Wiedersehen!“ zu.
Sie wandte sich beschämt ab, um die Tür aufzusperren. Damit hatte sie wahrlich nicht gerechnet, Laurenz Winter wollte sie wiedersehen und küsste sie flüchtig. Heute war Elinas Glückstag. In ihr brach ein weiteres Jubelgeschrei los.
Nicht einmal, als sie das Auto wegfahren hörte, traute sie sich, einen Blick zurückzuwerfen. Plötzlich keimten in ihr Selbstzweifel auf und verstummten den restlichen Abend über nicht.
„Was denke ich mir bloß dabei, solche Gefühle einem Fremden entgegenzubringen und ihm so viel Nähe zu schenken?“, kam es ihr in den Sinn.
Bevor sie im Bett die Augen schloss, gönnte sie es sich endlich, glücklich zu sein. Alles war so neu, so geheimnisvoll, fast so wie in Elinas Büchern. Oder wie in einem ihrer romantischen Filme, die sie ab und zu anschaute, um die Zeit totzuschlagen. Nun spielte sie die Hauptrolle in einem dieser Streifen. Es war nicht nötig, sich unbegründete Sorgen zu machen. Das Schicksal meinte es endlich einmal gut mit ihr. Mit einem Lächeln auf den Lippen und der Erinnerung an seine dichten dunklen Haare unter ihrer Schere schlief sie zufrieden ein.
Unbewusst war es der jungen Frau gelungen, an diesem Abend nicht an Malak und sein ungewöhnliches Erscheinen am Vortag zu denken.
*
Elina fuhr schweißgebadet aus einem Traum in die Höhe. Ihr Herz raste, schwer atmend schnappte sie nach Luft. Ihr Nacken war verspannt, sie musste sich aufsetzen. Sie ging in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Das kühle Nass rann wohltuend ihre Kehle hinunter. Verschwommen versuchte sie sich zu erinnern, was sie so aufgeregt hatte, dabei massierte sie ihre schmerzenden Schultern und ließ den Kopf kreisen, um die Verspannungen zu lösen.
Langsam kamen ihr die Szenen des Traumes wieder in den Sinn. Sie hatte sieben Engel gesehen, deren Anführer eindeutig Malak war und die eine Botschaft für Elina hatten. Wenn sie nur wüsste, was sie zu ihr gesagt hatten, es schien alles im Nebel ihrer Erinnerungen zu verschwimmen. Sie versuchte angestrengt, die Worte in ihrem Kopf zu finden, konnte aber nur an eine Traum-Elina denken, die sich summend die Ohren zuhielt, um der erneuten Begegnung mit dem Übernatürlichen zu entgehen. Nun ärgerte sie sich, so töricht gewesen zu sein, sie hätte zumindest abwarten können, was Malak ihr mitteilen wollte. Es erschien ihr im Nachhinein klüger, die Entscheidung auf später zu verschieben, ob sie darauf eingehen wollte oder nicht. Nun hatte sie ihre Chance eindeutig vertan.
Ein Gefühl des Ungehorsams beschlich sie, so wie damals, als sie noch ein Kind gewesen war und ihre Eltern, die immer liebevoll und gütig gewesen waren, bewusst hintergangen hatte. Es waren ganz normale Dummheiten und Streiche einer Minderjährigen gewesen, die im Nachhinein betrachtet sehr wertvoll für ihre Gewissensbildung waren. Aber das Wissen, seine eigenen Eltern verletzt zu haben, war nicht einmal aus heutiger Sicht erträglich. Doch sie waren nachsichtig, gerade weil sie noch ein Kind war. Oder weil sie vielleicht nur zu gut wussten, dass auch Erwachsene genug Fehler machten, die unüberlegt waren und erst im Nachhinein Reue aufkommen ließen.
Doch ein paar Fragen blieben. Was, wenn sie die sieben Engel vor einer großen Dummheit bewahren wollten? War sie im Begriff, einen Fehler zu begehen, der für sie unangenehm werden könnte? Und warum berührte sie die erneute Engelsbegegnung so sehr? Elina hatte doch beschlossen, die Sache als Einbildung abzutun. Spielte ihr das Unterbewusstsein einen Streich? Sie wusste, welch große Bedeutung Träume in der Bibel haben konnten. Nein, davon wollte sie nichts mehr wissen. Das würde unweigerlich zu erneutem Leid führen, wenn sie sich mit dem Glauben ihrer Eltern beschäftigte, der in den Aussagen der Bibel verwurzelt war.
Noch ein weiterer Gedanke beschäftigte sie. Malak hatte gesagt, sie würden sich wiedersehen. Aber schon nach so kurzer Zeit? Oder zählte eine Begegnung im Traum nicht? Sie musste es nüchtern betrachten. Was hatte sie in der Schule über Träume gelernt? Irgendetwas mit Ängsten, Vorfreude und Verarbeitung. Das musste es sein, sie verarbeitete die Begegnung, die sie so gerne vergessen würde.
Fragen über Fragen schwirrten Elina im Kopf herum, am liebsten hätte sie laut „Stopp!“ geschrien, sich wieder unter der Bettdecke verkrochen und wäre vor dem Wirrwarr in ihrem Kopf geflohen.
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