„Lassen Sie sich’s gut gehen, Wachtmeister!“ sagte der Häftling, dann wandte er sich zum jüngeren. „Und Ihnen, Herr Gefangenenwart, hab’ ich viel Dank zu sagen, nun aber grüssen Sie mir zu Hause meine Familie!“
Die beiden drückten sich die Hand, und ehe noch ein Wort weiter gesprochen wurde, wandte sich der Häftling und folgte dem vorausgehenden Oberwärter. Der Gefangenenwart ging mit dem Oberwachtmeister Saus mit langen Schritten über den Flur. Während dem Gehen sagte er laut, dass die Wärter verwundert horchten:
„Der Hauptmann ist so wenig verrückt wie ich, und wenn sie ihn behalten wollen, dann sorg’ ich dafür, dass ihn sein Rechtsanwalt aus diesem Hause holt.“
„Na, jetzt ist aber noch nichts zu machen, und dann, es ist ja auch egal um ihn, alle denken zu Hause so!“ meinte darauf der Oberwachtmeister Saus, und begann sich mächtig zu freuen, dass ihm seine Zeit nun doch reichen würde, „sein Programm“ zu erledigen.
Der Gefangenenwart aber dachte nach Haus an eine junge, schlanke Frau, die nachts weinte und am Tage mit blanken blauen Augen aufrecht durch die gaffenden Leute ging, so tapfer wie nur eine Frau sein kann, die einen tiefen Schmerz stille und wortlos verborgen im Herzen trägt. Und er dachte an die weisshaarige Mutter des Häftlings, die staunend am Fenster sass und nur das Weh fühlte, deren Kraft gebrochen war. Dann dachte er an zwei Jungen, denen der Häftling beim Abschied die Hände auf die Schultern gelegt und gesagt hatte:
„Gebt tüchtige Menschen, und haltet euch brav!“ Er sah die Jungen, die stolz auf ihren Vater waren, deren Augen sagten, was ihre Herzen voll kindlichem Vertrauen fühlten: „Wartet nur, ihr kennt ja unsern Vater alle nicht!“
Der Gefangenenwart wollte diesen zu Hause sagen: „Nur Kopf hoch, sie werden ihn im Narrenhaus nicht unterbekommen!“ Das wollte er sagen, auch wenn er es selbst nicht glaubte.
So glücklich die Reise für den Oberwachtmeister ausgefallen war, zum Schluss klappte es nicht mehr. Alles war gut gegangen, bis sie zu Hause auf der Bahnstation ankamen. Da wollte der Oberwachtmeister Saus, in Zivil, aus dem Abteil aussteigen. Seine Gefühle waren beschwingt, und er wurde unachtsam. So kam ihm, als die Lokomotive noch einen kleinen Ruck machte, sein Regenschirm zwischen die Beine. Der Schirm zerbrach und trübte die Erinnerung an die glückliche Fahrt.
„Nu ja,“ murrte er unverdriesslich, „man muss nur so einen verfluchten Kerl transportieren, und schon passiert einem ein Pech.“
Der Gefangenenwart hörte nicht hin, er ging eilig nach der Wohnung des Häftlings, noch ehe er sich nach Hause begab.
Ihr Herren und Damen, ihr irrt euch sehr,
So leicht ist das Tanzen nicht,
Besonders der Anfang ist bitter schwer.
Der Oberwärter, gefolgt vom Häftling, hinter dem die beiden Wärter blieben, legte scheinbar die Hand an eine der breiten Doppeltüren des Flurs. Da öffnete sich diese leise und sanft, lächelnd ging der Oberwärter an der Seite des Häftlings hindurch, die beiden Wärter traten rasch nach. Da schnappte die Tür mit einem harten Ruck wieder zu, gerade so wie eine Mausefalle klappt, wenn die Maus am Speck zieht. Sie standen in einem kahlen Raum, der in jeder seiner vier Wände eine grosse Doppeltür hatte. Da wandte sich der Oberwärter an den Häftling, seine Lippen wurden schmal, und die sonst gutmütigen Augen blickten nochmals forschend über den Häftling, dann sagte er:
„Sehen Sie, Herr, keine der Türen hat eine Klinke, nur Sicherheitsschlösser, und wer da den Schlüssel nicht hat, kann weder ein noch aus.“
„Das hab’ ich bereits gesehen,“ antwortete der Häftling kalt und abweisend.
Aber der Oberwärter sprach unbekümmert weiter, wie einer, der seinen Spruch schon oft hergesagt hat: „Und geben Sie jetzt, wenn wir durch diese Tür kommen, auf die Fenster acht, alle schwer vergittert, nicht zu durchbrechen, gerade wie diese Mauern hier; bei uns ist alles massiv.“
Der Häftling schaute geradeaus, als ginge ihn diese Rede gar nichts an. Der Oberwärter stutzte einen Augenblick. Dann lächelte er wieder. Langsam, so dass der Häftling das ja sehen musste, nahm er seinen Türschlüssel und schob ihn lautlos ins Schlüsselloch. Wieder sprang eine Tür auf.
„So!“ sagte der Oberwärter, „jetzt kommen wir zur Aufnahmestation.“
Sie betraten einen etwa vier Meter breiten Flur. Der vordere Teil war leer und kahl, nur zwei Türen waren gegenüber der Fensterseite. Dann aber gegen die Mitte zu stand das erste Bett, längs der Wand. Links und rechts kamen Türen, die irgendwohin führten. Dann standen im hintern Teil links und rechts des Flures wieder Betten. Menschen mit geschlossenen Augen lagen darin. Nur aus dem einen Bett unter dem letzten Fenster richtete sich ein alter, langer Mann auf. Sein Hemd war kurz und zerrissen. Der dünne, knochige Leib zeigte sich mit blosser Haut, die lange keine frische Luft mehr gefühlt hatte und wie Leichenhaut zu sehen war. Das Gesicht des Mannes war angstverzerrt, mit tiefliegenden Augen. Er sah aus wie der lebende Tod. Mit schwankenden, schlürfenden, dennoch raschen Schritten ging er auf die dem Eingang gegenüberliegende Türe zu. Mit beiden Händen schlug er gegen die Tür und schrie unruhig, wie einer, dem das Sterben im Herzen sitzt:
„O Herr Jesus, lasst mich hinaus, o Herr Jesus, lasst mich hinaus!“ und immer schrie der alte Mann dasselbe und schlug mit den Händen die Tür. Die Schlafenden wurden merklich unruhig. Einer setzte sich auf und jammerte kläglich: „Der Grossvater soll doch ins Bett gehen!“
Der Oberwärter war stehengeblieben, dann rief er einem Wärter zu: „Krotz, ist der Gugel schon wieder so unruhig?“
„Schon wieder, Herr Oberwärter! Immer noch, wäre richtig, ich hab’ ihn sicher schon ein paar dutzendmal ins Bett gelegt.“
Der Wärter Krotz ging langsam auf den Alten zu; der jammerte immer noch:
„O Herr Jesus, o Herr Jesus!“
Wärter Krotz nahm sachte den einen Arm des Alten, drehte ihn um, so dass er ihm ins Gesicht schaute. Dann bückte sich der Wärter rasch und legte den Alten, der immer mehr schrie, wie einen Sack auf die Schulter, trug ihn zu seinem Bett und legte ihn hinein.
„Krotz, geben Sie ihm eine halbe Spritze Scopolamin, damit er wieder ruhig wird, unser Grossvater,“ sagte der Oberwärter sachlich und lässig. Zu dem Häftling gewandt, fuhr er fort: „Das ist die Halbruhe für die weniger unruhigen, jetzt kommen wir zur Wachstation, da durch diese Tür.“
Der Oberwärter schloss mit seinem Schlüssel die nächste Tür auf. Sie traten in einen grossen Saal; rings an den Wänden standen die Betten, mit dem Kopfende gegen die Wand. Aus den meisten Betten schauten ausdrucklose oder verzerrte Gesichter. Einige der Patienten waren auf und gingen langsam herum, oder sassen schier teilnahmslos auf den Stühlen. In der Mitte des Saales waren zwei lange Tische zusammengeschoben; wohl dreissig Menschen konnten gut daran Platz nehmen. In einer Fensternische stand ein kleines Tischchen, und der grosse, blonde Wärter sass daran. Einige andere Wärter standen da und dort, ihre Augen schauten spähend nach allen Seiten aus.
„Hier ist Tag und Nacht, Licht und Wache, Herr!“ sagte der Oberwärter unvermittelt zu dem Häftling. Dann trat der Oberwärter rasch an das kleine Tischchen heran und sagte zu dem herkulischen, blonden Wächter:
„Hier, Herr Weber, ist der Patient, der uns zur Beobachtung geschickt wurde!“
Der stellvertretende Oberwärter Weber schaute mit wasserblauen Augen ruhig mit einem Anflug von Bedauern dem Häftling ins Gesicht, dann sagte er langsam:
„Wollen Sie sich gleich ins Bett legen, das ist Ihr Bett,“ er zeigte auf das Bett, das dem Wärtertischchen am nächsten stand. Der Häftling schaute sich noch einmal rasch im Saale um, dann fragte er:
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