Sie hatte es durchgesetzt, den Wünschen der Eltern entgegen. Hoch über dem Hafen von Spezia, über dessen Kriegsschiffe sie wegsahen in das wunderbare Blau des Mittelmeeres, hatten sie in einem rosa Landhaus gewohnt, mitten in einem Garten, dessen Hänge von Rosen und Orangen dufteten. Es war wie ein Traum gewesen, ein Traum von Duft und Farbe, von Schönheit und Glück. –
Und nun war sie doch wieder zu Hause bei den Eltern. „Ich liebe meinen Mann, ich liebe auch Italien – trotz allem“, sagte sie zur Mutter. „Sagt nichts auf Italien, ich ertrage es nicht.“
Es mußte schrecklich sein für die Tochter! Mit einem kummervollen Blick sah Frau von Voigt in das Gesicht der jungen Frau, dessen schöne Weichheit harte Linien bekommen hatte. Nein, sie würden sich ja beherrschen, nichts sagen, obgleich es schwer war zu dieser Zeit, die ganz erfüllt war von der Empörung über die Treulosigkeit des einstigen Bundesgenossen. Es war entsetzlich schwer, zumal für ihren Mann! Frau von Voigt zitterte innerlich vor einem Ausbruch des Generals. Die drei, die einst so innig zusammen gelebt hatten, saßen sich jetzt frostig und schweigsam bei den Mahlzeiten gegenüber. Ach, wenn doch ihr Mann schon lieber wieder draußen wäre! Wenn die Frau auch die Strapazen für ihn fürchtete, es war doch besser für ihn, für sie alle, als dieser jetzige unerträgliche Zustand.
Er, innerlich wütend, war von einer Förmlichkeit gegen die Tochter wie zu einer Fremden. Es war unerträglich. Aber nur so konnte er sich bezwingen und das zurückdrängen, was ihn jetzt ganz und gar erfüllte: dieses verdammte Italien!
Seine Frau fühlte es ihm an: Er sehnte sich ungeduldig, fortzukommen. Aber der General mußte warten, bis seine neue Division zusammengestellt war. Ein Glück, daß er so wenig zu Hause war! Für die Mutter war das Zusammenleben mit der Tochter auch nicht leicht – Lili war gereizt. Sie wußte oft nicht, sollte sie fragen: ‚Was schreibt dein Mann?‘, oder sollte sie nicht fragen.
Die junge Frau hatte auf der Reise nach Deutschland über die Schweiz den italienischen Gesandten in Bern aufgesucht. Ihre schönen verängstigten Augen hatten rührender zu ihm gesprochen als ihre Lippen; er vermittelte ihr den Briefwechsel mit dem Leutnant Rossi.
Ach, wie sie sich nach ihm sehnte! Sie waren unendlich glücklich gewesen. Nun schrieb er, ganz entflammt, von der Front: Sieg, Sieg! Er schrieb immer von Erfolgen: Italien würde sich binnen kurzem jene alten Gebiete zurückerobert haben, die unerlöst unter Österreichs Herrschaft schmachteten. Er war vollständig von Italiens gerechter Sache überzeugt, er brauchte große Worte. Die junge Frau sah ihn im Geiste vor sich mit dem geröteten Gesicht, die Augen aufgeregt, in einer Begeisterung, die sie nicht teilen konnte, teilen durfte. Oder doch, hätte sie die nicht teilen müssen? War sie jetzt nicht auch Italienerin? Ach, die vier Jahre höchsten Glücks im schönsten Lande der Erde hatten doch nicht das Land aus ihrer Seele verdrängen können, in dem sie geboren war. Sie hatte das vordem nie gewußt. Aber als ihr Mann zu ihr ins Zimmer gestürmt war, leidenschaftlich erregt durch den schmerzlichen Gedanken der Trennung von ihr, und doch jubelnder Genugtuung voll: ‚Krieg, Krieg, wir gehen gegen Österreich!‘ – da wußte sie: Österreich und Deutschland stehen jetzt zusammen. Und sie fühlte plötzlich, daß sie doch nicht Italienerin geworden war.
Es schnürte ihr die Kehle zu und preßte ihr das Herz zusammen, wenn sie in den italienischen Zeitungen lesen mußte, wie schlecht es um Deutschland stehe. Es grämte sie weit weniger, daß sie nun einsam vom Fenster ihres rosa Hauses hinaus in das wunderbare Blau des Mittelmeeres starrte, als daß sie denken mußte: Deutschland, wie geht es Deutschland?! Die Eltern hatten nicht geschrieben: ‚Komm‘, sie hörte jetzt überhaupt nichts von ihnen, sie wartete auch gar nicht darauf, sie wartete nicht einmal mehr eine Antwort ihres Mannes ab, sie reiste nach Deutschland. Wie auf der Flucht. Eine plötzliche unbändige Sehnsucht hatte sie getrieben, die Widrigkeiten einer sehr erschwerten Reise machten ihr gar nichts aus – nur nach Deutschland!
Und nun, da sie hier war, hatte sie doch nicht das große Gefühl, das sie erwartet hatte. Nicht die Beruhigung: zu Hause. Warum hielt der Vater sich so zurück? Warum sprach er nicht ganz unumwunden? Er hatte doch früher niemals mit seiner Meinung zurückgehalten. Die Zeitungen, die er sonst immer liegen ließ, nahm er jetzt an sich; sie vergaß, daß sie selbst gewünscht hatte: kein Wort gegen Italien. Und warum fragte die Mutter nicht nach Enrico? Die mußte doch wissen, daß sie heute einen Brief von ihm bekommen hatte. Einen ausführlichen Brief.
Sie saß auf ihrem Zimmer – es war noch dasselbe Zimmer mit den weißen Möbeln und den duftigen Mullgardinen, in dem sie als Mädchen so gern gewohnt hatte –, aber jetzt gefiel es ihr nicht mehr. Sie fühlte sich beengt. Wo war das blaue Meer, auf das sie hinausgeblickt hatte, weit, weit – wo der Garten voller Orangendüfte? Ach, war das doch schön gewesen! Mit umflorten Augen las sie wieder den Brief ihres Mannes. Er stand nicht weit von Roncegno – das kannte sie. Da war sie mit der Mutter auch einmal gewesen, als es noch österreichisch war. Sie hatte in Levico das Eisenwasser getrunken. Es war im zeitigen Frühjahr gewesen, oben auf den Bergen Winter, aber unten im Tal unzählige tiefdunkle große Veilchen, und die Fluren strahlend im Blütenschnee der Obstbäume. Als ob das nun bereits alles wieder Italien gehörte, so schrieb ihr Mann.
Der Leutnant Rossi schrieb nicht, wie man an eine Frau schreibt. So schwer er sich auch von ihr getrennt hatte – unten am Berg war er umgekehrt, war noch einmal durch den Garten zu ihr hinaufgestürzt, hatte sie an der Haustür noch ein mal an sich gerissen und noch einmal heiß und lange geküßt –, jetzt war er ganz Soldat. Er schilderte ihr seine Stellung, schrieb militärische Einzelheiten, soviel er davon berichten durfte. Gestern hatten sie einen Vorstoß gemacht im Felsgebiet, eine stark befestigte Stellung des Feindes genommen – fünfzig Gefangene, viele Tote –, aber es mußte noch ganz, ganz anders kommen. ‚Evviva Italia!‘ – hatte er das damals nicht gerufen, als unten im Hafen die Kriegsschiffe die Flagge hißten, jubelnd gerufen? Sie hörte es ihn jetzt wieder rufen. Aus jeder Zeile dieses Briefes rief es, aus jedem Wort. Für ihn gab es nur das eine, das einzige: Italien und Italiens Sieg.
Die junge Frau schloß die Augen. Sie beschwor sich sein Bild herauf: Er stand wieder vor ihr, jung, hübsch, liebenswert, sie sah in die Tiefe seiner dunklen Augen – warum sprach er nicht von Liebe? Nur von Krieg, Krieg. Hatte er denn ganz vergessen, daß seine Frau Deutsche war? Wußte er nicht, wie schwer es für sie sein mußte, schier unerträglich, ihn auf der anderen Seite zu sehen? War denn alles, was sie damals geglaubt hatte: ‚dein Volk, mein Volk, mein Land, dein Land‘, jetzt nicht mehr so? War das geträumt gewesen? Aus grausamer Wirklichkeit baute sich eine Mauer auf und wuchs schnell höher und höher. Hob sich ein Bollwerk, weit mächtiger als die Alpen, zwischen Italien und Deutschland, zwischen ihm und ihr. Ob er das auch so fühlte? Da – nur ganz zuletzt, ein paar Worte der Liebe. Als ob die ihm zum Schluß nur gerade noch einfielen! Sie verletzten mehr, als daß sie wohltaten. Der Brief fiel aus ihrer Hand zu Boden; sie ließ ihn liegen.
Langsam fingen ihre Tränen an zu rinnen und tropften ihr auf die Hände, die sie wie hilflos vor sich auf dem Schoß hielt. Ach nein, sie verstand ihren Mann nicht mehr, und er verstand sie nicht mehr. Wie durfte er ihr, gerade ihr so schreiben? – Ewiva Italia! – Er mußte doch wissen, daß es sie verletzte, wenn er Italien bejubelte. Oh, dieses heimtückische, verräterische, treulose Land! In ihrer Erregung konnte sie nicht genug der verdammenden Worte finden. Dieses Land, das es nicht wert war, daß die Natur ihm so viel Schönheit gespendet hatte.
Читать дальше