Die Dombrowski lachte: „Aber lassen Se se doch, Fräuleinchen. Das schadet ja nischte.“ Sie nahm die Ungezogenheit ihrer Sprößlinge sehr ruhig.
Früher war der Vater dazwischengefahren, da war der Junge ganz ordentlich und das Mädchen auch lange nicht so unartig. Aber nun war der Vater im Krieg. Selbst die Lehrerin wurde des Knaben nicht mehr Meister, wenn sie ihn auch mindestens viermal die Woche nachsitzen ließ. Das Fräulein hatte sich schon ein paarmal die Mutter kommen lassen: „Ich bitte Sie, Frau Dombrowski, halten Sie doch darauf, daß Ihr Erich seine Aufgaben macht. Er tut rein nichts zu Hause. Und freche Antworten gibt er!“ Es zuckte nervös im Gesicht der blassen, angestrengten Lehrerin. „Keiner ist so ungezogen wie Ihr Junge, er steckt mir die ganze Klasse an. Gott, ich sage, es ist wirklich nicht auszuhalten mit dem Bengel!“
„Aber Fräuleinchen!“ Die Dombrowski blieb gelassen. „Regen Se sich man nich auf! Das is nu nich anders. Davor is Krieg. Was soll ich denn machen, wenn der Erich nu nich gut tun will? Ich gehe auf Arbeit, ich muß auf Arbeit gehen, von den paar lumpigen Kröten Kriegsunterstützung kann man doch nicht existieren. Schlimm genug is es, daß man noch nich mal sagen darf, daß man was zuverdient – was die sich eigentlich denken! Das ’s doch ’ne Ungerechtigkeit: Frauen, die arbeiten gehen, müssen sich fürchten, daß se de Unterstützung entzogen kriegen, andere sind stinkfaul und die – na, aber ich bin nu mal so, ich arbeite ganz gerne. Das is man nu mal so gewöhnt von Jugend an: Wochentags-Arbeit und sonntags – na sonntags –!“ Sie lachte; aber dann seufzte sie: „Ja, sonntags, da hat man nu auch gar nischte.“ Ihre Augen, die wie schwarze Beeren in dem tiefgebräunten Gesicht funkelten, trübten sich.
Die Dombrowski war wirklich eine hübsche Frau, und sie hatte auch gar nicht so unrecht, es war schwer für Mütter, die auf Arbeit gingen, zugleich sorgsam auf ihre Kinder zu achten. Die Lehrerin lenkte ein. „Ja, ja. Aber das könnten Sie doch wenigstens, mir den Jungen morgens sauber in die Schule schicken. Ich muß ihn erst immer an die Pumpe führen.“
„Na, denn dreckt er eben unterwegs wieder ein!“ Die Dombrowski war nicht aus der Fassung zu bringen.
Es brachte sie auch heute nicht aus der Fassung, als jetzt ihre beiden wieder heulend in die Stube hereingestürzt kamen. Erich hatte Minna mit der Schippe gegen die Nase gestoßen, daß ein Bächlein von Blut heruntertroff, und war dann doch selber von Entsetzen ergriffen, als er sah, was er angerichtet hatte. Sie schrien beide und schimpften zwischen ihrem Heulen gegeneinander an. Gertrud war erschrocken zugesprungen und wusch dem Mädchen das Blut ab.
Frau Dombrowski sagte nur: „Erich, wart’ mal, ich schreibe es Vatern. Der kommt und nimmt dich mit in’n Schützengraben. Da fressen dich die Ratten. Oder die schwarzen Franzosen kommen und holen dich; die fressen auch Kinder!“ Sie hatte ihren Spaß darüber, daß der Junge sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.
„Frißt unser Vater auch Kinder?“ fragte er langsam.
„Das nich“, sagte die Mutter lachend. „Der is doch nich schwarz. Aber fuchtig kann der auch werden, wenn ihm was nich paßt.“ Es flog wie ein leiser Schatten über ihr lachendes Gesicht.
Sie mochte wohl daran denken, daß er sie einmal geschlagen hatte. Und nur wegen einer Kleinigkeit. Er war eines Sonntagabends mit ihr in einem Lokal gewesen, da hatten verschiedene Männer am Nebentisch gesessen, und der eine von ihnen, ein hübscher Mensch, hatte Blicke mit ihr gewechselt. Das war alles. Aber ihr Stanislaus konnte so was nicht leiden. Eifersüchtig war der, oje!
Minka Dombrowski blickte einen Augenblick nachdenklich: Wie hatte er doch gesagt, als er von ihr fortmußte?: ‚Minka, ich sag’ dir, wenn du mir nich treu bleibst!‘ Er hatte gezittert dabei, der arme Kerl. ‚Minka, ich sag’ dir, dann –‘ Sie hatte ihn gar nicht ausreden lassen. Sie hatte ihm rasch die Hand vor die Augen gelegt, die anfingen unruhig umherzurollen, und war dann so zärtlich, so heiß gewesen, daß sie im besten Einvernehmen schieden.
Auf der Bahn beim Abschied hatte keine so sehr geweint wie Minka Dombrowski und keine so lange nachgewinkt.
Wenn Frauen sich jetzt auf der Straße trafen, standen sie noch länger beisammen als zu früheren Zeiten. Abends war am Bahnhof der Heeresbericht angeschlagen, da sammelten sie sich in Gruppen. Die Ehefrauen sprachen von ihren Ehemännern, die Mädchen von ihren Liebsten; da war keine, die nicht einen draußen gehabt hätte. Aber Gertrud Hieselhahn stand nicht bei ihnen; sie kam abends von Berlin, dort arbeitete sie bei einem großen Unternehmer – alles Militärsachen. Es war jetzt so viel zu tun, daß sie morgens schon eine Stunde früher anfingen und abends eine Stunde später aufhörten. Immer mehr Leute wurden eingezogen, immer neue eingekleidet, immer wieder rückten welche aus.
Es würden bald keine Männer mehr hier sein, stellte Minka Dombrowski fest. Sie holte das Fräulein manchmal abends vom Bahnhof ab; es hatte sich ein gewissermaßen freundschaftliches Verhältnis zwischen ihr und ihrer Mieterin herausgebildet. Sie bewunderte das Fräulein, das so viel feiner war als sie, sich besser kleidete, besser sprach, sich besser zu benehmen wußte, und Gertrud wiederum vergaß nicht, daß die Dombrowski sich keinen Augenblick besonnen hatte, sie, die Ledige, die ein Kind erwartete, zu dem kein Vater sich bekannte, bei sich aufzunehmen. Sie würde auch nicht so viel verdienen können, wenn die Dombrowski nicht so und so oft von der Arbeit nach Hause liefe, um nach dem Kindchen zu sehen, sie nahm es sogar an schönen Tagen, wenn sie auf ihrem Stück Land arbeitete, mit hinaus, hatte es bei sich stehen im Wagen.
Müde kam Gertrud heute zurück, müder noch als sonst. Es war so voll in der dritten Klasse, sie mußte stehen. Es war heiß im Wagen, und sie erzählten alle so viel. Fing eine nur an mit einem Wort, war gleich eine allgemeine Unterhaltung im Gang. Hier hatte jede ihr Schicksal.
Die alte Frau in der Ecke hatte Sohn und Enkel im Feld; sie selber erzählte nichts, aber die Nachbarin, die mit ihr nach Berlin gefahren war, weil die Großmutter den Enkel, der durchkommen sollte auf einem Transport nach Rußland, gern noch einmal auf dem Bahnhof sehen wollte, war gesprächiger. Sie hatten leider den Jungen nicht herausgefunden, obgleich sie erst vier Stunden auf dem Potsdamer Bahnhof gewartet hatten und dann noch vier Stunden auf dem Schlesischen.
„Wir sind ganz alle davon, nich wahr, Sie?“ Sie stieß die Alte an.
Die nickte nur und wischte sich den Schweiß ab. Ihre welke Hand mit dem Taschentuch zitterte und sank ihr dann matt in den Schoß.
Die Gesprächige erzählte umständlich weiter, wie sehr sich die Großmutter gefreut hätte. „Sie hängt so sehr an dem Jungen – se hat schon die ganze Nacht nich schlafen können vor Aufregung. Es is zu traurig. Wir haben gewartet und gewartet, und nu hat se’n doch nich zu sehen gekriegt. Siebzig is se und schlagrührig, wer weiß auch, ob se noch lebt, bis er wiederkommt.“
„Mein zweiter ist auch draußen“, mischte sich eine andere ein, eine Dame in Trauer; man sah es ihren Augen an, daß sie viel geweint hatten. „Meinen Ältesten habe ich schon verloren, der war an dem Unglückstag mit bei Dixmuiden. Mein dritter wird jetzt auch eingezogen. Nun kann ich nur dasitzen und warten, bis wieder ein Brief, den ich ins Feld schickte, an mich zurückkommt: ‚Gefallen.‘“ Sie sagte es mit verzweifelter Bitterkeit.
Ein Sturm erhob sich: Wie konnte sie nur so sprechen?! Sie schrien alle auf sie ein.
Selbst die schlagrührige Alte tat jetzt den Mund auf. „Warten – wir wollen noch ’n bißchen warten“, stammelte sie.
Die Nachbarin tippte sich auf die Stirn: „Se is schon ’n bißchen kind’sch. Un nu ganz verwirrt durch die lange Warterei.“
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