„Ich warte auch so“, sagte die junge Frau, die ein kleines Kind auf dem Schoß hielt und eines vor sich stehen hatte, das in dem überfüllten Wagen sich ängstlich an ihre Knie drückte. „Auf Nachricht von meinem Mann. In der Zeitung hab’ ich gelesen, die Engländer wären nördlich von Ypern in unsere Schützengräben eingedrungen. Gerade da liegt mein Mann. Wenn ihm nur nichts passiert ist! Nachts tue ich kein Auge zu. Immerzu denk’ ich: Wie geht es ihm? Wenn ich nur erst Nachricht hätte!“ Man sah ihr die Unruhe an, ihr noch jugendlich-rundes Gesicht hatte einen gespannten ängstlichen Ausdruck.
„Ja, das Warten ist schrecklich“, sagte irgend jemand. „Das Allerschrecklichste.“
Ach ja! Sie seufzten alle.
Auch Gertrud kannte das Warten und seine Qual. Auch sie hatte gewartet, erst mit heimlicher Ungeduld, daß er nochmals auf Urlaub kommen sollte, ehe er ausrückte, sie zu seiner Frau machen, ehe er ins Feld zog. Ihr hoffendes Warten war vergeblich gewesen, er hatte nicht auf ihre Bitte gehört. Und dann hatte sie trotzdem wieder gewartet: auf eine Karte, einen Brief, ein Lebenszeichen von ihm – auch das Warten war vergeblich gewesen. Er kam nicht mehr wieder, was auch seine Mutter sagte! Ein tiefer Seufzer, der wie ein Stöhnen klang, entrang sich ihr; alle blickten auf sie.
„Sie können wohl nicht mehr stehen?“ Ein junges Mädchen, das bis dahin anscheinend teilnahmslos in seiner Ecke gesessen hatte, stand auf und gab ihr seinen Platz.
Sie setzte sich. Dankbar lächelte sie das Mädchen an, das nun vor ihr stand. Wie mager die war! Unter der leichten weißen Bluse zeichneten sich die Arme dünn ab, und der Hals, der sich aus dem Ausschnitt reckte, war gleichfalls sehr dünn. Und die Augen waren übergroß und weit. Die wartete sicherlich, der sah man es an. Unwillkürlich fragte Gertrud: „Sie haben wohl auch jemanden draußen?“
Die andere nickte hastig, ein tiefes Rot flammte über das bleichsüchtige Weiß ihrer Haut. „Meinen Bräutigam!“
Nun wendeten sich ihr alle Blicke zu: schwer für ein Mädchen, den Bräutigam draußen! „Wo steht er denn?“
Sie lächelte: „Ach, immer da, wo es am tollsten zugeht. Erst an der Weichsel und dann tief in Rußland – und dann in Frankreich – und jetzt – jetzt – na, jetzt ist er mit vor Przemysl.“
„Na, so was!“ Das allgemeine Interesse war erregt. Erst in Rußland, dann in Frankreich und nun wieder in Galizien! Der wurde ja ordentlich herumgeworfen.
Selbst die Dame in Trauer erkundigte sich näher: „Bei welchem Truppenteil steht Ihr Herr Bräutigam denn?“
Die Braut schien die Frage zu überhören. Mit einer Lebhaftigkeit, die seltsam von ihrer vorherigen Teilnahmslosigkeit abstach, erzählte sie jetzt: „Oh, mein Bräutigam ist sehr tüchtig. Der hat Mut. Er hat aber auch schon lange das Kreuz. Und nun ist er eingegeben fürs Kreuz Erster.“
Voller Bewundern blickten alle.
„Mein Mann hat auch ’s Kreuz“, sagte die junge Frau, die das Kind auf dem Schoß hielt, leise, „aber nur ’s Kreuz Zweiter.“
„Ist Ihr Herr Bräutigam denn Offizier?“ fragte die Dame in Trauer.
„Nein, das nicht.“ Eine gewisse Unsicherheit kam in den Blick des Mädchens. „Gefreiter.“
Dann war das doppelt anzuerkennen: gemeiner Soldat und das Kreuz Erster! Die Bewunderung stieg noch.
Und wie getragen von dieser allgemeinen Bewunderung flammte die Braut immer höher auf, ihre unscheinbare Gestalt schien zu wachsen, ihr mageres Gesicht wurde ordentlich hübsch. Sie war so stolz auf ihn, so überaus glücklich trotz aller Schwere der Zeit. „Und was er für Briefe schreibt! Hochinteressant. Wenn ich vom Amt komme – ich bin Telephonistin –, warte ich’s kaum ab, bis ich sie lesen kann!“
„Schreibt er denn so oft?“
„Ja, sehr oft!“
„Dann sind Sie aber glücklich dran“, seufzte die junge Frau, die nach einer Nachricht ihres Mannes von Ypern bangte.
„Ich schreibe ihm aber auch täglich!“
Die Glückliche, daß die das konnte! Es stieg wie Neid in Gertrud auf. Sie las in den Augen des unscheinbaren Mädchens lauter Genugtuung, lauter Befriedigung. Die war vielleicht die einzige im Wagen, diejenige von all den Wartenden hier, die nicht mürbe darüber geworden war, nicht niedergeschlagen und verbittert.
Als sie ausstiegen, gab Gertrud ihr die Hand. Nun das Mädchen nicht mehr von dem Bräutigam sprach, war es wieder blaß, still und unscheinbar wie vordem. „Fräulein, ich wünsche Ihnen alles Gute. Sie haben viel Glück. Unsereiner ist nicht so gut dran.“ Es stieg feucht in Gertruds Augen, sie kam sich gegenüber dieser glücklichen Braut noch verlassener als sonst vor, und trotzdem zog es sie zu jener so hin, als sei die auch eine Leidensgefährtin. Sie nannte ihren Namen und ihre Wohnung. „Wenn’s Ihnen nichts ausmacht, Fräulein, besuchen Sie mich doch mal. Ich bin abends meist von achte an zu Hause und sonntags den ganzen Tag.“
Die andere errötete schüchtern, lächelte und flüsterte, jetzt so bescheiden: „Gerne!“ –
Die Dombrowski, die Gertrud abholte, kannte das Mädchen von Ansehen. „Ach die! Das ist die Tochter von Dietrichs aus ’m Zigarrenladen; da wohnt se bei ihrer Mutter. Der Vater war an der Post; der is vor zwei Jahren gestorben.“
„Die ist verlobt?“
„Das weiß ich nich“, sagte die Dombrowski. „Kann sein. Ich würd’ mir ja nich mit die verloben, wenn ich ’n Mann wäre. Schön is anders!“ Sie lachte, ihre dunklen Beerenaugen funkelten. „Fräuleinchen, heut wär’s schön, wenn wir noch ’n kleinen Bummel machen könnten, was?“
„Ich bin müde.“ Gertrud gähnte abgespannt. Sie bemerkte es nicht, wie die Augen der anderen suchend herumspazierten; sie dachte nur an das Kind und wie sie es heut finden würde. Es hatte gestern abend so geschrien, sie hatte es auf der Straße, ein gutes Ende noch vom Hause weg, schon gehört. Und sie war gelaufen, gestürzt.
Sie wollte jetzt weiter eilen, aber die Dombrowski hielt sie am Ärmel zurück: „Noch ’n Augenblick. Da steht die Exzellenz, die Frau General von Voigt, bei die wasch’ ich.“ Sie war ordentlich stolz auf ihre Beziehungen. „Die muß ich sprechen. Morgen soll ich bei die ihre Tochter kommen. Bei die Italjänerin. Da putz’ ich Fenster.“
Die einzige Tochter des Generals von Voigt hatte vor vier Jahren den italienischen Leutnant Rossi geheiratet. Sie hatte ihn kennengelernt, als sie mit ihren Eltern in Italien reiste. Herr von Voigt, damals noch Oberst, hatte kein Arg dabei gehabt, daß sie den jungen Offizier immer wieder trafen: in Venedig, in Mailand, sogar in Florenz. Da der Italiener kein Deutsch sprach und der Deutsche kein Italienisch, mußte Lili Dolmetscher spielen, oder die Unterhaltung wurde französisch geführt. Der junge Mann war sehr liebenswürdig, trotz seiner etwas nachlässigen Haltung sehr schneidig; es machte dem deutschen Offizier Spaß, wie genau der kleine italienische Leutnant über die österreichischen Grenzbefestigungen Bescheid wußte. Er sprach mit einer gewissen Nichtachtung von Österreichs Kraft und Wehrmacht, von Deutschland dagegen mit großem Respekt. Der Oberst fand Gefallen an ihm – ein intelligenter netter Mensch –, bis plötzlich der Nebel zerriß, den der Wirbel der Reiseeindrücke und das Entrücktsein aus dem gewohnten Alltag ihm vor die Augen gelegt hatten. Was, seine Tochter, die Tochter eines preußischen Offiziers, wollte einen Italiener heiraten? Lili war verrückt! Sie reisten schleunigst mit der Tochter nach Hause.
Aber Lili von Voigt hatte auf ihrem Willen bestanden. Die Mutter hatte die Zukunft dieses schönen verwöhnten Kindes nie anders gesehen als im Hause eines reichen Mannes; der Vater sah sie an der Seite eines jungen Kameraden, dessen Leben er vom Kadettenkorps an verfolgen konnte – die Gedanken der Tochter aber flogen Tag und Nacht über die Grenze hin, zu ihm, der sie mit seinen dunklen Augen, die ihr ein Abgrund von Tiefe schienen, gefangen hatte.
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