Aber das Mädchen kam ihr zuvor. Es stieß den Wagen mit dem Fuß in die Ecke und sagte unwirsch: „Schreihals!“ Dann kehrte es sein wieder rot gewordenes Gesicht der unwillkommenen Besucherin zu: „Was wünschen Sie eigentlich?“
Die Krüger wurde ganz verlegen, der Ton der Hieselhahn war so abweisend-barsch. Aber recht hatte die ja eigentlich: Warum sollte sie besonders höflich und freundlich sein? „Na, wegen Gustav – ich wollte – ich dachte doch, Sie würden sich auch freuen, daß er noch am Leben is.“
„Wer sagt Ihnen denn so sicher, daß er noch am Leben ist? Das Bild da?“ Mit einer grausamen Deutlichkeit sprach die Hieselhahn jedes Wort aus. „Ich glaube noch nicht dran. Glaube überhaupt nicht dran. Glaube überhaupt nichts in der Welt mehr. Wenn man einmal so geglaubt hat wie ich, und es war dann doch nichts, dann glaubt man nicht mehr.“ Ein verbitterter Zug grub sich um ihren Mund, sie kreuzte die Arme über der Brust und sah finster drein.
Die arme Person! Gustavs Mutter fühlte plötzlich großes Mitleid. Alles, was sie damals nicht empfunden hatte, als sie den Sohn von dem Mädchen abzubringen suchte, das empfand sie jetzt. Sie streckte die Hand aus. „Fräulein Hieselhahn“, sagte sie versöhnlich, „ich bin gekommen in meiner großen Freude. Seit Oktober voriges Jahr habe ich auf Nachricht von meinem Sohn gewartet, nu weiß ich endlich, daß er noch am Leben is – und ich bin so froh, so dankbar, so – so –“ Sie stockte einen Augenblick, überlegte: nicht zuviel versprechen. Aber dann stieß es sie förmlich vorwärts, rasch schloß sie: „Ich will dem Gustav ’ne Freude machen. Und das wird ihn freuen: Kommen Sie zu mir, heute, morgen, wann Sie wollen! Holen Sie sich was von Gustavs Kinderwäsche – und auch sonst noch was. Und nu darf ich wohl mal den Kleinen aufnehmen?“
Ohne erst Antwort abzuwarten, trat sie rasch zum Wagen, nahm das strampelnde Kind heraus und hob es mit beiden Armen hoch. Der Kleine krähte. „Na siehste, da biste ja! Du bist aber schon ’n Kerl. Ei, du, du!“
So hatte die Krüger mit ihren Kindern, von denen nur der Gustav noch am Leben war – die zwei andern waren klein gestorben –, dereinst auch geschäkert. Es wurde alles wieder wach, wieder lebendig. „Wie alt is er denn jetzt? So’n strammer Junge!“ Sie war entzückt.
„Erst vier Monat!“ Nun lag doch ein gewisser Stolz im Ton der jungen Mutter, der klang nicht mehr so abweisend. Sie wurde gesprächiger. „Er war gleich von Anfang an so kräftig. Die Hebamme sagte: ‚Sicher acht Pfund.‘ Das macht die gute Luft hier draußen; viel anderes kann ich ihm ja auch nicht geben.“
„Nähren Sie selber?“
„Das kann ich nicht. Ich hab’ meine Beschäftigung. Die Frau, bei der ich hier wohne, sieht nach dem Kind. Es ist ’n Zufall, daß ich heute zu Hause bin. Ich bekomme Milch für den Jungen.“
„Die zahle ich“, sagte Frau Krüger rasch. Das war doch das mindeste, was sie tun konnte; sie hätte gern mehr, viel mehr getan. Sie wußte nur nicht, wie sie’s anfangen sollte, sie traute sich nicht. Die Hieselhahn war ihr nicht recht verständlich. War die nun böse auf Gustav, so böse noch auf ihn, daß sie nichts mehr von ihm wissen wollte? Oder war es nur der Groll gegen sie, seine Mutter? Oder hatte sie den Gustav schon vergessen und verschmerzt? Die war so gleichgültig, seltsam teilnahmslos. Aber gleichviel, es war ihre, der Mutter, Pflicht, Gustav zu Gefallen freundlich zu sein. Und sie legte das Kind rasch hin, deckte es zu und streckte der anderen die Hand hin: „Na, denn will ich jetzt mal gehen, Fräulein. Aber nich wahr, Sie besuchen mich bald? Es wird mir sehr freuen!“ Sie wartete auf eine Antwort. Die kam nicht. Sie mußte schon direkt fragen: „Sie kommen doch?“
„Nein.“ Das klang wieder eisig; so wie zu Anfang. „Wir beide haben nichts miteinander zu tun. Wenn der Gustav was will, kann er ja kommen. Oder er soll schreiben an mich. Aber er kommt nicht wieder. Er kann auch nicht mehr schreiben. Ich weiß es.“ Sie legte wie vordem die Hand über die Augen, als schwindle es ihr.
Was hatte die Hieselhahn eigentlich damit sagen wollen? Die Mutter grübelte darüber nach, als sie durch die Sommerhitze nach Hause schlich. Sie fühlte ihre Füße wie Bleigewichte, und es wurmte sie, daß die Person sie hatte so abfallen lassen. Und was sollte das heißen: Er kommt nicht wieder, er kann auch nicht schreiben mehr –?! Glaubte die vielleicht nicht, daß er noch am Leben war? Oder wollte sie nur damit sagen: Er kommt nicht zu mir ? Ja, so war’s, das nur meinte sie. Denn der Gustav war ja am Leben, Gott sei Dank! Und es konnte nicht mehr lange dauern, ein Jahr war schon Krieg, bald kam der Friede und brachte allen Gefangenen die Freiheit. Und den Gustav nach Haus!
Gertrud Hieselhahn hatte den Besuch nicht hinausbegleitet, ihre Füße waren wie angewurzelt. Sie stand, wo sie stand, gleichsam festgewachsen an die nackte Diele. Ihre Augen blickten wie geistesabwesend in die leere Luft. War die Frau, seine Mutter, verrückt, daß sie glaubte, er wäre das? Der Mann auf dem Bild, der Gefangene, der so zur Erde blickte? Das konnte auch nur eine denken, die den Gustav nicht so liebte, wie sie ihn geliebt hatte. Sie, die sein Gesicht – jeden Zug – seine Stirn, seine Nase, seinen Mund, seine Augen noch so genau in der Erinnerung hatte, als hätte sie ihn gestern zuletzt gesehen. Sie wußte ganz genau: Das war er nicht. Ein anderer war es, von Statur und Haltung ihm vielleicht ein wenig ähnlich, aber ein ganz, ganz fremdes Gesicht. Denn wenn er auch schlecht gegen sie gehandelt hatte, wenn sie auch hundertmal an ihn gedacht hatte in tiefem Groll, sie würde ihn doch erkennen, allüberall. Seine Mutter, die täuschte sich; sie aber würde ihn noch erkennen nach vielen, vielen Jahren, erkennen am Ende ihres Lebens, wenn sie schon alt war, eisgrau.
Gertrud Hieselhahn weinte, bittere enttäuschte Tränen. Einen Augenblick hatte sie doch geglaubt, er sei noch am Leben, es hatte sie durchzuckt mit einem freudigen Schrekken, der sie schwach machte. Nun war’s doppelt schwer. Nun fühlte sie erst, daß sie ihn noch immer liebhatte – trotz allem. Sie nahm das Kind aus dem Wagen und küßte es heftig, ihre Tränen machten das kleine Köpfchen ganz naß. Sie sank mit ihm auf den nächsten Stuhl.
So fand Frau Dombrowski sie, die mit ihren zwei Kindern, die sich hinter dem Rücken der Mutter heimlich knufften, von ihrem Stück Land kam. Sie war heiß und müde. Seit ihr Mann im Krieg war, mußte sie sich allein um den Acker kümmern; es war zwar nur ein kleines Stück, was sie besaßen, aber es machte doch Arbeit, zumal sie noch Wasch- und Reinemachstellen hatte.
„Na, Fräulein, is ’s Essen fertig? Noch nich? Aber nu!“ Sie war ungehalten, das Fräulein hatte heute doch mal dafür sorgen wollen. Nun waren die Kartoffeln wohl geschält, aber sie standen noch nicht auf dem Feuer. „Ich sage schon“, fuhr sie los, „alles wird auch von unsereinem verlangt, und Sie sitzen da und –.“ Sie verstummte, als sie die Tränen der anderen sah. Es war etwas in der Haltung des Mädchens, das so ganz zusammengesunken dasaß, das Kind an sich pressend, was sie mitleidig stimmte. „Na, was is Ihnen denn?“ Gutmütig fing sie an zu trösten: „Gottchen, nu weinen Se doch nich. Noch immer wegen Ihrem Liebsten? Fräuleinchen, sind Sie aber dumm! Sie kriegen noch zehne für einen. Da sagen se immer, die Männer wären jetzt rar – ach was! Wenn se jetzt auf Urlaub kommen, sind se rein doll. Ich sage Ihnen, Fräulein, ich könnt’ Ihnen erzählen. Wenn ich so wollte!“ Sie lachte und reckte mit einem gewissen Wohlbehagen ihre üppige Gestalt.
Es war ein leises Befremden in dem Blick, mit dem Gertrud jetzt die Frau ansah: Oh, die Dombrowski! Aber recht hatte sie, es hatte keinen Sinn, es war dumm, dem einen, dem einzigen nachzuweinen. Entschlossen richtete sie sich auf und wischte ihr Gesicht und das naßgeweinte Köpfchen des Kindes ab. Es war an ihrer Brust still geworden und eingeschlafen. Behutsam legte sie es in den Wagen und wehrte dann den Kindern, die wieder hinausgelaufen waren und jetzt draußen vorm Fenster mit der eisernen Schippe und dem Besen wie mit Waffen aufeinander losschlugen. „Wollt ihr das wohl lassen! Um Gottes willen, ihr haut euch ja noch tot!“
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