Mit einer Entschlossenheit, die ihre Müdigkeit überwand, suchte die Mutter weiter. Sie fand die Hieselhahn nicht. Wohnte die vielleicht auch hier nicht mehr? Schon gingen die Häuser zu Ende. Endlich erfuhr sie vom Postboten, der des Weges kam: „Hieselhahn – Fräulein Hieselhahn –? Ach so, die mit dem Kind! Die wohnt noch weiter draußen, in dem kleinen Gehöft an dem Kartoffelland, bei Streckenarbeiter Dombrowski.“ –
Frau Krüger stieß die vermorschte Lattentür auf und betrat den eingefriedeten Hof. Es sah hier recht einfach aus, ziemlich armselig. Geringes Ackergerät stand umher; eine Schubkarre, Schippe, Besen, ein paar schadhafte Körbe. An der offengebliebenen Tür eines leeren Bretterschuppens, den kläglich miauend eine Katze umschlich, hing ein verschlissener Männerrock, den Wind und Wetter zur Vogelscheuche gemacht hatten, und ein alter Filzhut, der nur eine Krempe, aber keinen Kopf mehr hatte. Dieser zerwehte Rock, der durchlöcherte Hut, der leere Schuppen hatten etwas Trauriges und Verlassenes, obgleich die Sonne hell schien. Frau Krüger fühlte eine Beklemmung: So sah es hier aus? Nur das Geschnatter einer Gans, die jetzt heranwatschelte, und ein mauseriges Huhn, das im Sand kratzte, beruhigten sie; das war doch etwas einigermaßen Vertrauenerweckendes.
Eine Frauengestalt, die Ärmel hochgestreift, die Füße in Holzpantinen, stand an einer Bütte vor der Haustür und spülte Kinderwäsche. Sie mußte sich tief bücken, Schweißtropfen perlten ihr hinab ins Waschfaß, aber sie hatte flinke Hände. Und fleißig war sie.
Das war die Hieselhahn! Frau Krüger erkannte sie sofort, obgleich sie sie nur flüchtig ein paarmal gesehen hatte. Sie blieb ganz still stehen und sah der Fleißigen zu. Sehr armselige Hemdchen, aus schon dünn getragenem altem Zeug zusammengenäht, ein paar winzige Jäckchen und Windeln!
Frau Krüger wischte sich den Schweiß ab: War das unerträglich heiß heute! Und zu Hause hatte sie noch so viele gute Kindersachen!
Aus dem niedrigen Fenster zu ebener Erde erscholl jetzt eine kräftige Kinderstimme, ein lautes, ungestümes Geschrei.
„Ja ja, na, warte man, du!“ Die Waschende hob den Kopf, da begegnete ihr Blick dem fest auf ihr ruhenden Auge der Krüger. Sie stutzte; sie schien einen Augenblick nachzudenken, dann flog ein rasches Rot über ihr Gesicht. Etwas Feindseliges kam in ihren Ausdruck. „Sie wünschen?“
Frau Krüger wußte sofort: Die hat dich erkannt, und böse ist sie dir auch noch. Hatte die Hieselhahn nicht Groll in den Augen – etwas Herausforderndes –, oder war es nur Abwehr? Aber das half ja jetzt alles nicht, jetzt mußte sie gutmachen, sie kam wegen Gustav, ja, wegen Gustav, und – wegen ...
Das Kindergeschrei erhob sich immer stärker, und mitten in das Geschrei hinein sagte die Krüger, sagte es ganz ruhig, aber das Herz schlug ihr dabei: „Ist das der Kleine? ’ne gute Lunge, ’is doch ’n Junge, was?“
„Jawohl“, sagte die junge Mutter kurz und kehrte sich ab, um ins Haus zu gehen.
Da faßte die alte Mutter einen starken Entschluß: Sie durfte sich nicht an der Abwehr der anderen kehren, sie mußte der sagen, was sie zu sagen hatte, die mußte hören. Und mit einem großen Schritt war sie bei dem Mädchen und faßte es beim Handgelenk: „Sie, wissen Sie was? Der Gustav lebt!“
„Was geht mich das an?“ Die Hieselhahn wollte gleichgültig tun, aber dann wurde sie doch totenblaß. Sie strebte nicht mehr fort, sie blieb stehen. Mit weitgeöffneten, fast angstvollen Augen starrte sie seine Mutter an: Warum, warum kam die und sagte ihr, ihr das?! Wollte die sie wieder beleidigen, ihr wieder wehe tun wie damals? Oh, sie wußte sehr wohl, die mochte sie nicht leiden, die hatte es hintertrieben, daß Gustav ehrlich an ihr gehandelt hatte. Aus sich selber hätte der ja niemals gesagt: „Das Kind ist nicht von mir.“ Er wußte es ja, daß sie keinen andern angesehen hatte, seit er mit ihr verkehrt, daß sie nicht einmal den Kopf nach einem andern gedreht hatte. Was kam nun seine Mutter und sagte ihr: ‚Er lebt?‘ Für sie war er tot, doch tot, und wenn auch Nachricht von ihm gekommen wäre.
Gertrud Hieselhahn setzte die Zähne fest aufeinander, ein Weinen wollte ihr kommen, aber sie zwang es nieder. Was, auch noch weinen? Hatte sie nicht schon genug geweint, als er sie sitzen ließ? Und genug heimlich geweint, als sie von anderen hörte, Gustav Krüger werde vermißt seit Dixmuiden, seine Mutter habe gar keine Nachricht von ihm? Nun, jetzt würde sie doch nicht etwa weinen vor Freude, daß er noch am Leben war! Was ging sie das an? Tot oder lebendig, ihr konnte es gleich sein! Das Mädchen machte ein steinernes Gesicht, es strebte sich loszumachen, aber die Hand der Krüger hielt sie fest.
„Hören Sie denn nicht, verstehen Sie denn nicht?! Der Gustav!“ Die Hand der Mutter schüttelte die nassen verwaschenen Finger. „Der Gustav ist noch am Leben. Er ist nicht tot. Er ist nur gefangen. Und ich kann ihm schreiben – ich schreib noch heute – soll ich ihn grüßen von Ihnen? Was – was sagen Sie nu?!“
Gertrud hatte einen unwillkürlichen Ausruf getan in Freude und Schmerz. Nun sagte sie langsam, sich mit der freien Hand an die Stirn fassend und die Augen schließend, als schwindle es ihr: „Woher wissen Sie das?“
„Woher? Hier, sehn Sie mal!“ In triumphierender Freude zog die Mutter aus ihrer Tasche das Blatt. Und wie sie es vordem Frau Bertholdi getan hatte, so hielt sie es jetzt der Hieselhahn dicht vors Gesicht: „Kennen Se ihn wieder, kennen Se ihn? Der da, der so krumm dasteht! Er hat sich nie gerade gehalten. Und abgefallen is er auch mächtig. Gefangen – na, denn kann’s einen ja auch nich verwundern. Aber sein altes liebes Gesicht is es doch noch. Der Gustav!“
Ihr Finger, mit dem sie immer wieder auf die jungendlichschmächtige Gestalt eines Gefangenen, der, den Kopf gesenkt, betrübt dastand, getupft hatte, fuhr jetzt, wie liebevoll streichelnd, übers Papier. „Der Gustav – das ist er! Erkennen Sie ihn?“
„Den da kenn’ ich nicht.“ Gertrud schüttelte ernst den Kopf. „Sie irren sich wohl.“
„Ich, mich irren?!“ Nun lachte Frau Krüger förmlich hell auf. Und dann sah sie das Mädchen mißbilligend, verächtlich fast, von der Seite an. „Wenn Sie ihn auch nich erkennen, ich erkenn’ ihn.“ Sie fühlte sich plötzlich ernüchtert, in ihrem ehrlichen Entgegenkommen zurückgestoßen, verletzt. Es bröckelte etwas von ihrer Freude ab. Ja, was so’n Mädchen Liebe nennt! Die erkannte ihn ja nicht einmal! Am liebsten hätte sie sich gleich umgedreht und wäre fortgegangen – was wußte die denn, wie ihr zumute war –, aber das Geschrei des Kindes hielt sie fest. Am Ende mußte sie sich das doch einmal ansehen; wer weiß, vielleicht hatte es gar keinen Zug von ihm! Ein häßlicher Verdacht stieg wieder in ihr auf. Sie hatte damals nicht ohne Grund den Sohn gewarnt, die Hieselhahn sollte früher einmal etwas flott gewesen sein. Jetzt sah sie freilich nicht danach aus. Kümmerlich, recht blaß. Der täte schon eine gute Pflege not. Es war nicht angenehm, das dem Gustav zu schreiben. „Kann ich den Kleinen mal sehen?“ fragte sie kleinlaut.
Das Mädchen antwortete nicht, es zuckte die Achseln. Aber dann machte es doch eine einladende Handbewegung. Es ließ die Frau vor sich ins Haus treten.
Die Stube war sehr bescheiden eingerichtet: ein Bett, ein Tisch, ein paar Stühle, ein Schrank, am Fenster die Nähmaschine und neben dem Bett in einem alten Kinderwagen das Kleine.
Es hatte aufgehört zu schreien, als ob es den Eintritt der Mutter schon wahrnehme. Die Augen in dem runden Köpfchen guckten groß und blau. Die Krüger bekam einen förmlichen Schreck: Die Hieselhahn hatte braune Augen, das aber waren Gustavs Augen, auffallend große Sterne, von langen dunklen Wimpern umsäumt. Sie war früher oft auf Gustavs Augen angesprochen worden, als sie ihn noch auf dem Arme trug. Und dieses Kind hatte dieselben hübschen Augen, die er als Kind gehabt und die er auch jetzt noch hatte. Sie beugte sich über das Bettchen; sie hatte den Wunsch, den Jungen einmal herauszunehmen, auf ihrem Arm zu halten.
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