Sie wollte sich abwenden: Voran, an die Arbeit, wochentags kam sie nicht dazu, ihre Sachen auszubessern. Beim Arbeiten würden ihr schon die trüben Gedanken vergehen, dann rasselte die Nähmaschine ihr Lied herunter, und der Kleine krähte dazu. Da sah sie eine Frauengestalt die Straße heraufkommen. Wollte die hierher? Es schien so. Jetzt winkte die. Wer war denn das?
Erst als sie vor ihr stand, erkannte Gertrud das magere Gesicht, die weiten, sehnsüchtigen Augen und das durchsichtige Blaß der Haut: Das war ja das Fräulein aus der Bahn, das ihr seinen Sitzplatz gegeben hatte! Die hatte sie damals um ihren Besuch gebeten.
„Ich habe Sie nicht gleich wiedererkannt. Das ist aber nett von Ihnen – kommen Sie doch rein, bitte!“
„Sie – Sie haben mich aufgefordert“, stotterte Margarete Dietrich, und ihr bleichsüchtiges Weiß überzog sich mit einem verlegenen Rot. „Ich – ich war krank, sonst wäre ich längst gekommen.“
„Ja, es ist schon lange her!“ Jetzt fiel Gertrud erst alles Nähere ein.
„Was macht denn Ihr Herr Bräutigam?“ fragte sie rasch, um zu zeigen, daß sie auch noch Bescheid wußte.
„Oh, dem geht es sehr gut!“ Fräulein Dietrich tat einen tiefen Atemzug, ihre matten Augen strahlten auf. „Der ist sehr tüchtig, sehr tapfer – er hat aber auch schon lange das Kreuz, und nun ist er eingegeben fürs Kreuz Erster.“
War er das nicht damals schon? Gertrud glaubte sich zu erinnern.
Das Mädchen fuhr jetzt ganz ohne Schüchternheit fort: „Er schreibt mir sehr oft – oh, Sie sollten nur einmal lesen – was für schöne Briefe! Und sehen Sie – da!“ Sie zerrte den Handschuh herunter und spreizte ihre dünnen Finger: Am vierten glänzte ein goldender Reif. „Den hat er mir geschickt zum Geburtstag – den Verlobungsring!“ Sie stand wie verzückt, den Ring betrachtend.
War die aber schwärmerisch veranlagt! Etwas in des Mädchens Gebaren stieß Gertrud ab, und zugleich empfand sie doch etwas wie Mitleid: Die sah ja entsetzlich elend aus. „Was hat Ihnen denn gefehlt?“ fragte sie und schob ihren Arm unter den der Besucherin.
Das blasse Fräulein Dietrich wurde wieder rot und schlug die Augen nieder. „Ich sehnte mich so. Davon bin ich nervös geworden. Immer Kopfweh. Und denn so matt.“ Sie seufzte.
Auch Gertrud seufzte. ‚Ich sehnte mich so‘ – ach ja, das konnte sie wohl verstehen. Den mageren Arm der anderen drückend, sagte sie herzlich: „Er wird ja wiederkommen. Er wird doch auch gewiß bald mal auf Urlaub kommen. War er denn noch gar nicht hier?“
„Nein. Noch keinmal!“ Das Fräulein klagte. „Ich kann’s gar nicht sehen, wenn andere stehen und ihren Bräutigam erwarten. Oder an seinem Arm gehen. Es ist schrecklich für mich.“ Mit einem so tiefen Seufzen, daß es fast wie ein Stöhnen klang, fuhr sie sich nach der Stirn und preßte dann die Hand auf die Brust. „Ich habe immer Herzklopfen. Und es schnürt mir da alles zusammen. Gott, man ist doch auch jung. Und hat mehr Gefühl als manche andere. Und immer so dabeistehen und immer nur zusehen – nein, das ist schrecklich, zu schrecklich!“ Das zarte Rot auf dem blassen Gesicht hatte sich noch mehr vertieft.
Jetzt war Margarete Dietrich nicht das scheue, schüchterne Mädchen mehr, sie war eine heftig Begehrende. Gertrud um den Leib fassend und an sich pressend, daß dieser fast der Atem verging, stieß sie heraus zwischen Schluchzen und Lachen: „Wenn er doch käme!“
„Er wird ja kommen, beruhigen Sie sich doch!“ Gertrud war ganz verdutzt und erschrocken: Die war ja zu aufgeregt. Ihrer ruhigen Art war das unverständlich: Wie konnte man sich nur so haben? Und doch war da ein geheimes Band zwischen ihr und jener, ein Band, das man nicht sah und nicht greifen konnte, das sie aber trotz allem zueinander zog. Sie litt es, daß Fräulein Dietrich den Arm um ihren Hals schlang und sie küßte. Ihr war der Kuß zwar nicht angenehm, peinlich empfand sie den brennenden Druck dieser feuchten Lippen, aber sie überwand sich und erwiderte ihn. Sie war ja auch allein und sehnsüchtig. Tausendmal mehr allein als jene es war, denn sie konnte hoffen; sie aber hoffte nicht mehr. „Ich weiß gar nicht, warum Sie so außer sich sind, Fräulein Dietrich!“
„Sagen Sie doch: ‚Gretchen‘!“
„Warum Sie so außer sich sind, Fräulein Gretchen!“
„Nein, bloß ‚Gretchen‘ – ‚Gretchen‘, wie es im Faust steht. Sie kennen doch Faust?“
„Nein.“
„Den borg’ ich Ihnen. Den müssen Sie lesen. Den lese ich zu gern. Ich lese überhaupt viel – immer des Nachts. Viel zuviel, sagt der Doktor. Was soll ich machen, wenn ich doch nicht schlafen kann?! Der Telephondienst macht schrecklich nervös. Und denn der Krieg. Früher war ich ganz gesund – aber seitdem!“ Wie in schmerzhaftem Empfinden zog sie die Brauen zusammen, ihre Augen hatten allen Glanz verloren, blickten wieder matt und wie in unbestimmter Sehnsucht verloren. „Wenn er nun nicht bald kommt –!“
Gertrud lächelte. „Er kommt ja. Und was machen Sie dann?“
„Oh, dann heiraten wir. Ich lasse mich kriegstrauen.“ Die Dietrich fuhr auf wie von einem plötzlichen Gedanken bestürmt, neu belebt. „Ja, kriegstrauen, ja, ja! Er bekommt zehn Tage Urlaub – wir heiraten gleich – sofort, sofort – wir machen ’ne kleine Hochzeitsreise – dann muß er schnell wieder weg – ich bring’ ihn noch auf die Bahn – ich stehe und winke ihm nach – ‚mein Mann, mein alles auf der Welt‘ – es wird mir sehr schwer – oh, sehr schwer – aber dann bin ich doch Frau, seine Frau!“ Jetzt lachte sie hell.
„Seine Frau!“ Langsam sprach es Gertrud ihr nach. Sie sah die andere von der Seite an und senkte den Kopf – die hatte es gut.
Langsam gingen sie Arm in Arm über den Hof. Der war wüst und verlassen. Ackergerät lag umher. Schubkarren, Schippe und Besen. An der Tür des leeren Schuppens hing noch immer der zerschlissene Männerrock, von Wind und Wetter zur Vogelscheuche gemacht. Den zerlöcherten Filzhut ohne Krempe hatte Erich Dombrowski der Pumpe aufgestülpt.
Fräulein Dietrich war jetzt still, sie sah sich nicht um, sie ließ sich ins Haus führen, als ginge sie wie eine glücklich Träumende.
Drinnen schrie plötzlich das Kind. Da hob Gertrud den Kopf und sagte fest – Trotz trieb sie dazu und ein Sichstemmen gegen das eigene Mißgeschick: „Hören Sie, Gretchen? Mein Kleiner schreit. Ich hab’ ein Kind. Und ich bin nicht seine Frau – niemandes Frau.“
Es dauerte lange, bis Gretchen Dietrich ans Fortgehen dachte. Es dämmerte bereits; und nun fürchtete sie sich, im Dunkeln zu gehen. Warum hatten sie sich auch so viel zu erzählen gehabt! Gertrud hatte an der Maschine gesessen und genäht und Margarete auf einem niederen Schemelchen, das den Dombrowskischen Kindern gehörte, hatte den Kopf an Gertruds Knie gelegt und den Kleinen auf dem Schoß gehalten. „Lassen Sie mich ihn doch halten, bitte, bitte!“
Sie vergoß bittere Tränen über der Freundin Geschick, sie konnte nicht genug davon hören. „Ach, erzählen Sie – und als Sie’s ihm nun sagten, was sagte er da? Nicht kriegstrauen lassen wollte er sich, trotzdem?“
„Seine Mutter wollte es nicht.“
Das war ja wie im Roman! Die Augen der Dietrich waren groß und weit. Mit überströmender Zärtlichkeit drückte sie den Kleinen an sich, hielt ihn an ihrer Brust wie eine Mutter. „So ein Kind, so ein süßes Kind! Ach, wenn ich doch auch ein Kind hätte!“ Sie schwatzte mit dem Säugling, der sie doch nicht verstand, und erzählte ihm lange Geschichten vom Vater draußen im Krieg.
Gertrud lächelte wehmütig. Sie hatte so lange nicht Besuch bei sich gehabt, war an das Schweigen in ihrer Stube so gewöhnt, daß es ihr fast schwindelte. Was Gretchen alles erzählte! Ihr Bräutigam war in Frankreich – immer in Frankreich gewesen, versicherte sie –, und Gertrud glaubte doch damals gehört zu haben, er wäre auch in Rußland gewesen.
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