„Also bei Schluderbach!“ Die Mutter versuchte die junge Frau auf andere Gedanken zu bringen. „Weißt du noch, Lili, wie wir in Schluderbach waren? Sieben Jahre werden es her sein. Auf der schönen Tiroler Reise, beim Anfang unserer Dolomiten-Tour. Wir kamen vom Dürrnstein herunter, ein furchtbares Gewitter hatte uns überrascht, Vater hatte sich Blasen an den Füßen gelaufen, ich schleppte mich zuletzt auch nur noch, tropfnaß kamen wir in Schluderbach an. Aber schön war’s doch. Unsere Sachen mußten in den Trockenofen, der Hotelwirt half uns aus. Du bekamst das Sonntagsgewand von dem Tiroler Dirndl, der Stubenmagd. Beim Abendessen unten im Saal kam ein Herr an unsern Tisch – ein berühmter Maler – und bat, ob er dich malen dürfe. Weißt du noch, Kind?“
„Ich weiß es nicht. Ich weiß von nichts mehr. Sage nicht sieben Jahre – siebzig Jahre sind es her!“ In einer trostlosen Gleichgültigkeit erstarb die Stimme der jungen Frau. Sie zog die Stirn in Falten, und ihre Augen blickten abwesend, wie mit ganz anderen Dingen beschäftigt.
Sich äußerlich ruhig zeigend, aber innerlich durch eine unbestimmte Unruhe verstimmt, sagte die Mutter: „Gute Nacht!“ Als sie unten an der Tür der Frau Krüger vorüberging, saß diese noch immer in der gleichen Stellung wie vorhin, tief über den Tisch gebeugt. Vor ihr lag ein großer Atlas und daneben ein dickes Buch. Jetzt hob sie den Kopf. Das ‚Gute Nacht‘ der Vorüberschreitenden hatte sie aufgeschreckt.
Frau von Voigt trat in die Tür. Sie wollte ihr ein paar freundliche Worte sagen: Die Frau war sehr ordentlich, das Haus sehr sauber. „Nun, Frau Krüger, wie sind Sie denn mit meiner Tochter als Mieterin zufrieden? Ich hoffe doch: gut. Viel Lärm macht sie ja nicht.“
„Ich weiß es nicht.“ Die Frau sah sie mit ganz verlorenen Blicken an. Aber dann, wie sich wieder zur Gegenwart zurückfindend, stand sie auf: „Entschuldigen Sie! Ich habe die Frau Generalin nicht gleich erkannt.“
„Sie studieren so eifrig etwas?“
Die Krüger lächelte verlegen. „Ich wollte mir mal Korsika aufsuchen. Hier steht’s im Buch“ – sie zeigte ein aufgeschlagenes Konversationslexikon – :„‚Insel im Mittelmeer‘. Aber ich kenne mir doch nich recht aus; ich kann sie nich finden.“ Sie wischte mit dem Zeigefinger hilflos auf der Landkarte herum.
„Hier.“ Frau von Voigt wies sie zurecht.
„Danke vielmals.“ Die Krüger war sichtlich erfreut; sie wurde gesprächig. „Da is nämlich mein Sohn jetzt.“ Sie sah wie gebannt auf die hingezeichnete Insel, die wie eine geballte Faust, die einen Finger ausstreckt, links vom italienischen Stiefel erscheint. Sie nickte verträumt: „Nu weiß ich doch wenigstens, wie es da aussieht. Sehr groß is se nicht. Zweihundertneunzigtausendundachtundsechzig Einwohner hab’ ich gelesen; gebirgig und stark bewaldet. Täler sehr fruchtbar, aber schlecht angebaut. Na, Gustav wird schön gucken; schlecht angebaut is man bei uns nich gewohnt. Viehzucht und Fischfang, Thunfische – die kenn’ ich nich. Aber er wird sie schon mögen; er aß Fisch sehr gern. ‚Mutter, koch grünen Aal‘, sagte er immer; und Weihnachten ‚polnische Karpfen’. Die wird er da ja nich kriegen.“
Frau von Voigt hätte lachen können: Korsika und grüner Aal und polnischer Karpfen! Aber so lächerlich diese Zusammenstellung an sich war, in den Augen der Krüger war ein Ausdruck, der alles Komische verscheuchte. Frau von Voigt glaubte nie so viel zweifelnde Sehnsucht, so viel frommen Glauben und so viel anklammernde Hoffnung in einem Menschenblick gesehen zu haben. Das waren Augen, die Nächte um Nächte gewacht, viele Tränen vergossen hatten und noch viele mehr nicht ausgeweinte in sich verbargen. Augen, die sich fast blind gelesen hatten an den enggedruckten Daten langer Verlustlisten; Augen, die unentwegt voll bangender Liebe in die Ferne gespäht hatten; Augen, die nichts anderes mehr sahen, die nur nach dem einen blickten – Augen der Mutter, die auf den Sohn wartet.
Sie reichte der Krüger die Hand. Bewegt sah sie in das verfurchte Gesicht der Frau, das die Sorge gepflügt hatte wie der Pflug den Acker. „Gebe Gott, daß der Krieg bald zu Ende ist! Das war heute wieder ein großer Sieg.“
Die hinter faltigen Lidern sich bergenden Augen der Krüger blinzelten in dem einst breiten, jetzt lang gewordenen Gesicht. Ein Licht glomm in ihnen auf, das ihrem matten Blau tieferen Glanz verlieh. „Dann werden alle Gefangenen frei!“
Die Krüger stützte die Hand auf den Tisch, als poche sie darauf. Und sie lächelte. „Es steht in der Bibel geschrieben: ‚Dann wird Frohlocken und Jauchzen sein und des Friedens kein Ende.‘“
Der Abend von Nowogeorgiewsk durfte doch nicht zu Ende gehen, ohne daß er gefeiert wurde. Einige Urlauber hatten sich zusammengefunden. Unter ihnen hatte Minka Dombrowski einen alten Bekannten. Als sie am Nachmittag mit den Kindern in den Anlagen – der einstmaligen Dorfaue – dem Militärkonzert zuhörte und viele Blicke, die sie als lauter Bewunderung einschätzte, ihr neues Kleid musterten, hatte sie ihn wiedererkannt. Kaum hatte sie einen lauten Ausruf der Überraschung unterdrücken können: Je, das war ja der von damals aus dem Restaurant, auf den ihr Stanislaus so eifersüchtig gewesen war! ... ‚Minka, ich sage dir, wenn du mir nicht treu bleibst!‘ Er hatte gezittert dabei und mit den Augen gerollt. Ach je, der arme Kerl! Der war jetzt in Frankreich. Er konnte am Ende auch in Rußland sein. Wochen schon hatte sie keine Nachricht. Wer weiß, wo er steckte!
Sie hatte dem Verehrer, der sie damals mit vielsagenden Blicken bewundert und der ihr jetzt in Feldgrau noch besser gefiel, freundlich zugelächelt. Sie war doch eine verheiratete Frau, sie konnte sich das schon erlauben. Und wer konnte es ihr verdenken, ihr, die sich so plagen und mit den Kindern herumschleppen mußte und nicht einmal den Mann da hatte, der ihr sagte: ‚Minka, du bist zum Anbeißen!‘, daß sie die Einladung des Feldgrauen, den Abend mit ihm zu verbringen, annahm. Sie aß auch gern mal was Gutes. Auf Bockwürstchen und neues Sauerkraut hatte er sie eingeladen. Da gab’s auch Bier zu trinken. So schickte sie denn die Kinder nach Hause. Der Junge widersetzte sich, er wollte nicht gehen, da gab sie ihm einen so derben Klaps, daß er sie ganz entsetzt anstarrte. Sie sagte aber gleich hinterher: „Ich schenk’ dir auch ’n Groschen.“
Der Feldgraue lachte: Diese Frau war wirklich drollig. Er fühlte ihre Lebensgier. Sie machten erst noch einen kleinen Spaziergang, bei dem sie neben ihm herschlenderte, in der schon merklichen Abendkühle fröstelnd in ihrem leichten Kleid. Erst als sie im Walde waren und er den Arm um sie legte, wurde ihr wärmer. Sie dachte jetzt nicht an ihren Mann. Wenn der Mann zu lange fort ist, gewöhnt man sich zuletzt daran, man fängt an, zu vergessen. Und doch war es ihr wiederum, als der Feldgraue neben ihr schritt, als ginge sie mit ihrem Stanislaus, und sie lehnte sich fest gegen ihn, als er zärtlich wurde. So lange hatte kein Mann sie im Arm gehalten! Dabei schwatzte sie munter.
Als sie einkehrten, war das Lokal schon gestopft voll. Mit Mühe fanden sie noch an einem Tisch Platz, daran schon drei Feldgraue saßen. Sonst hatte jeder Feldgraue seine Liebste bei sich; diese drei aber waren noch unbeweibt. Und sie machten Herrn Lehmann, im Zivilleben Barbier, gefährliche Konkurrenz.
Minka Dombrowski schwamm in Seligkeit: nicht bloß einen, nein, vier Männer auf einmal. Es benahm sie ganz.
Sie saßen, in eine Ecke gedrängt, an einem kleinen Tisch und so dicht beisammen, daß bald der, bald jener Männerfuß ihren Fuß berührte. Die Knie stießen unter dem Tischchen zusammen; drückte sich ein Knie ganz besonders fest gegen das ihre, so drückte sie wieder. Herr Lehmann war der hübscheste von den vieren und ein alter Bekannter, er war auch der, der für sie bezahlte, sie schlug jedem andern, der nach ihr greifen wollte, auf die Finger.
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