„Redensarten! Das können die Vornehmen und Reichen leicht sagen“, kam es jetzt höhnisch von irgendwoher.
„Wer sagte das?“ Die Generalin drehte suchend den Kopf, ihre stattliche Gestalt reckte sich noch stattlicher. „Es ist traurig“, sagte sie sehr laut, „daß es immer noch Leute gibt, Deutsche gibt, die ein Vergnügen daran finden, zu mäkeln und zu hetzen. Was heißt jetzt ‚vornehm und reich‘? Wenn einer im Schützengraben liegt und ist ein Prinz, liegt er ebenso im Dreck wie der einfachste Handlanger, und der eine Million hat, ebenso wie der, der keinen Pfennig besitzt!“
Na, die war aber nicht auf den Mund gefallen! Und ‚Dreck‘ hatte sie gesagt – ‚Dreck‘! Einige amüsierten sich darüber. Sie lachten. Und das steckte an. Ein ganzer Knäuel von Weibern drängte sich um Frau von Voigt. Diese wußte nicht recht, war das nun ein höhnisches Lachen oder erfreute Zustimmung? Eine plötzliche Zaghaftigkeit überkam sie. Es tat ihr leid, daß sie sich hatte so hinreißen lassen. Sie drängte sich durch und ging davon mit raschen Schritten, im Innersten verstimmt. Nun war ihr die ganze Freude an Nowogeorgiewsk verdorben. War das wohl die rechte Art, den Sieg aufzunehmen? Man erwartete ja kein lautes Frohlocken von den Leuten mehr, aber konnten sie es nicht hinnehmen still-freudig bewegten Gemütes? Ihr Mann hatte doch recht, man durfte an diese Leute nicht den Maßstab legen wie an sich selber. Sie waren in Freud und Leid doch eben anders, als man selber war.
Sie sah plötzlich eine große Kluft – wer würde die überbrükken?! Der Krieg, zu dem doch alle auszogen, alle, vornehm und gering, arm und reich? Er hatte es bis jetzt nicht gekonnt. Würde es der Friede können –?
Die Straße, die sie zu gehen hatte, lag dunkel. Droben kein Stern. Der Wind, der den ganzen Tag geweht, hatte Wolken heraufgetrieben, nun flogen sie, seltsam geballt und zerrissen, wie fratzenhafte schwarze Ungeheuer über das matte Grau des Nachthimmels. Sie mußte an den Mobilmachungsabend denken. Da war sie am Arm ihres Mannes in Berlin die Linden hinuntergegangen, die dichte Masse der Menschen hatte sie mit fortgetragen, sie waren im langsam flutenden Strom vors Schloß gelangt. Wo die Leute die Offiziersuniform erkannten, machten sie respektvoll Platz. Das Schloß lag dunkel und schweigsam. Der Kaiser hatte zu seinem Volk gesprochen gehabt, sie waren zu spät gekommen, aber überall hörten sie noch davon reden.
„‚Ich kenne keine Parteien mehr‘ – ja, so hat er gesagt“, hörte sie einen Mann dicht hinter sich laut erzählen. Ein anderer erläuterte das noch näher: „Nu jibt es nämlich jar keene Unterschiede nich mehr. Ob de Jeld hast oder keens, ob de Jraf bist oder nur Fritze, der Klamottendräjer, ob de uf de hohe Schule Latein jelernt hast oder ob de nich lesen un schreiben kannst, allens eene Wichse. Allens nur Deutsche!“
Ein wehmütiges Lächeln kam der jetzt eiliger Schreitenden. Ein Regen fing an zu tröpfeln, der Himmel weinte. Sie lief in tiefen Gedanken: Ach ja, so leicht war es nicht, verstanden zu werden! Rührend war aber der Droschkenkutscher gewesen, mit dem sie dann vom Schloßplatz zurückgefahren waren, rührend und komisch zugleich. Er hatte, mit der Peitsche zurückdeutend nach dem dunkel-ragenden Bau, in dem Deutschlands Kaiser jetzt wohl die Geschicke Europas in seinem Herzen bewegte, und sich, halb auf seinem Bock zu ihnen herumwendend, beifällig nickend gesagt: „Wir haben Wilhelmen doch unterschätzt!“ Der alte dicke Kutscher und sein humpeliger Gaul waren ihr unvergeßlich geblieben. Und unvergeßlich auch der Anblick, der sich ihnen bot, als auch sie sich umwandten.
Langsam war da vom Wasser her ein mächtiger Vogel über Lustgarten und Schloß, über Dom und Zeughaus gesegelt. Mit weitgebreiteten Schwingen stand er jetzt still. Nur ein Wolkengebilde war es, gewitterschwanger am Sommerabend. Aber sich unter ihm rötend, schien der Himmel zu glühen vom Flammenwiderschein. Aufgeregt von den Ereignissen dieses Tages hatte sie nach ihres Mannes Arm gegriffen: „Da – da – siehst du ihn auch?“ Ein schwebender Adler war es mit gespreizten Flügeln. Es hatte sie wie ein Schreck durchzuckt: War das nicht der russische Adler?
Es war der preußische Adler gewesen – Gott sei gedankt!
Die Generalin war jetzt am Krügerschen Haus angelangt; sie wollte noch die Tochter besuchen. Und wieder stieg eine Verwunderung in ihr auf, daß sich Lili gerade diese Wohnung ausgesucht hatte. Die war so bescheiden: kein Parkett, niedrige Zimmer, kein elektrisches Licht. Überm Türeingang schwelte eine kleine Petroleumfunzel.
Als Frau von Voigt die unverschlossene Tür aufklinkte und in den engen Flur trat, fiel ein Lichtschein aus dem Zimmer zu ebener Erde. Die Stubentür stand offen. Drinnen saß die Krüger am Tisch und schien beim trüben Schein einer Lampe in einem Buch zu lesen. Sie war so vertieft, daß sie von der an ihrer Tür Vorüberschreitenden nichts bemerkte.
Frau von Voigt stieg zu ihrer Tochter hinauf. Lili öffnete ihr selber die Glastür, die die Wohnung abschloß. Das Mädchen war zum Bahnhof gelaufen, als das Läuten anfing. „Ich brauche sie ja auch nicht“, sagte die junge Frau gleichgültig. In ihrem weißen schleppenden Schlafrock mit dem weißleuchtenden Gesicht sah sie aus wie ein Geist.
Die Mutter blickte sie voller Besorgnis an. „Nowogeorgiewsk, Lili“, sagte sie stark. „Nowogeorgiewsk, das ist ein großer Sieg, ein wichtiger Fortschritt.“ Es war ihr, als müsse sie die bleiche Frau da vor sich aufrütteln. Sie legte beide Hände auf die Schultern der Tochter und schüttelte sie leicht. „Wie wird sich der Vater freuen! Er wird jetzt noch in Warschau sein. Ich bin sehr gespannt auf seinen Brief. Freu du dich auch, Lili, nun wird der Krieg bald zu Ende sein!“
„Das glaubst du ja selber nicht.“ Ein ungläubiges Lächeln zog die Mundwinkel von Frau Rossi herab. „Was könnte es mir auch nützen – Siege, Erfolge?!“ Sie zuckte die Achseln. „Friede –?! Die Feindschaft, die einmal zwischen die Nationen gesetzt ist, wird dadurch nicht aus der Welt geschafft. Ich werde diesen Krieg nie verwinden.“ Sie seufzte, und dann stieß sie mit Leidenschaft heraus: „Verfluchen werde ich ihn, solange ich lebe!“
„Aber Lili!“ Die Mutter versuchte mit glättender Hand über die zusammengezogene Stirn der Tochter zu streichen. „Du bist zu viel allein. Du hast zuviel Zeit zum Grübeln, Kind. Ich bleibe gern heute abend bei dir.“ Sie zog die Tochter ins Zimmer und setzte sich.
Aber Lili sagte müde: „Nein, nein, geh du nur nach Hause. Bei mir ist es nicht gut sein. Du bist froh und stark, hast ja auch alles Recht dazu – aber ich?!“ Sie griff sich mit beiden Händen in das schöne blonde Haar. „Ich bin wie zerstückt. Hin und her gerissen zwischen Liebe und Abneigung. Zwischen Furcht und Hoffnung. So ein Sieg regt mich immer grenzenlos auf. Wenn sie läuten, ist mir’s gerade, als läuteten sie zum Begräbnis von etwas mir Teuerem. Ich muß mir die Ohren zuhalten, ich kann es nicht anhören!“
Frau von Voigt sagte nicht ‚Armes Kind‘, sie zog die Tochter auch nicht mitleidsvoll in ihre Arme. Das würde ja nicht viel bessern; Lili mußte selber sehen, wie sie sich abfand, sich durchkämpfen. Nur sie allein konnte sich helfen aus diesem Zwiespalt ihrer Gefühle. So fragte sie nur, indem sie aufstand und sich schon wieder zum Fortgehen anschickte: „Hast du wieder einen Brief von deinem Mann?“
Es kam wie Belebung über die junge Frau. „Einen Augenblick noch, Mutter!“ Sie lief zu dem kleinen Schreibtisch und holte den Brief her. Unter die Hängelampe tretend, las sie ihn. Sie las ihn nicht ganz vor, nur ab und zu übersetzte sie einen Satz. „‚Wir sind nicht mehr in der vorigen Stellung. Wir sind vorgerückt bis zum Monte Piano. Östlich Schluderbach griffen wir gestern an‘ –“ Die junge Frau brach ab, verstört sah sie nach der Mutter hin. „Es scheint nicht gutgegangen zu sein. Dieser Brief ist vom zweiundzwanzigsten August. Ich kenne doch Enrico. Hätten sie Erfolg gehabt, hätte ich schon längst wieder einen Brief. Es ist ihm dann ein Bedürfnis, von dem Siege zu sprechen. Ach Gott, und ob es mich auch aufbringt, wenn diese Italiener siegen, so muß ich es ja doch fast wünschen.“ Sie drückte den Brief an ihr Gesicht. „Es ist so schrecklich, ohne Nachricht zu sein!“
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