Aber Gretchen erzählte und hielt dabei die Hand in die Höhe, daß der letzte Strahl des sinkenden Tages auf ihren Ring fiel: Dieser Ring war aus Frankreich, französisches Gold. Aus dem großen französischen Goldstück, das ihm der Graf in die Hand gedrückt, als er dem verzweifelten Vater die Tochter aus den Händen der gierigen Soldateska befreit hatte. „Er hat die Belohnung natürlich nicht annehmen wollen, aber der Graf hat ihn so gedrängt, daß er zuletzt sagte: ‚Nun, so werde ich denn für meine geliebte Braut daheim den Verlobungsring daraus fertigen lassen.‘“
„Waren Sie denn noch nicht verlobt? Hatten Sie denn noch nicht seinen Ring?“ fragte Gertrud. Sie sagte es so hin, nur um etwas zu sagen, ihre Gedanken schweiften ab. Wie war die hier so beneidenswert, die trug den Ring des Geliebten am Finger, mochte kommen, was wollte, die war seine verlobte Braut! Unwillkürlich blickte sie auf die eigene Hand: Ihr Finger war leer.
Die Dietrich lachte leise, sie flüsterte dann geheimnisvoll: „St, nein, es darf auch jetzt noch zu Hause keiner wissen, daß ich verlobt bin. Ich steck’ den Ring nur an, wenn ich ausgehe. Komm ich nach Haus, zieh’ ich ihn vorher ab. Es ist noch heimlich.“
„Aber warum denn? Wenn’s doch so’n braver Mensch ist?“ Gertrud verwunderte sich.
„Meine Mutter kann ihn nicht leiden – hu, die ist bös! Aber wenn ich ihn nicht kriege, geh’ ich ins Wasser!“ Erregt sprang das Mädchen auf, unruhig lief es in der Stube umher.
Das Kind, durch die Heftigkeit aus einem leisen Schlummer geweckt, fing an zu quarren. Gertrud wollte es nehmen, aber Margarete wollte es nicht lassen. „So ein Kind, so ein süßes Kind, ach, wenn ich doch auch ein Kind hätte!“ Sie fing an zu schluchzen.
Diese Aufgeregtheit hatte wirklich etwas Beunruhigendes. Gertrud war eigentlich ganz froh, als die andere endlich aufbrach. Bis zu den ersten Häusern wollte sie Gretchen bringen. Sie schlug ein Tuch um sich und das Kind und nahm es auf den Arm, an den anderen hängte sich die Dietrich.
Um die beiden Frauengestalten, die langsam den Häusern zuwandelten, wob sich die Dämmerung. Sie waren beide dunkel gekleidet, und dunkel waren auch schon die Felder rechts und links der Chaussee. Geheimnisvolle weiße Gestalten standen im Dunkel auf und schienen zu winken. Margarete hängte sich fester an Gertruds Arm und drängte sich an sie: „Wie gut, daß Sie mitgehen, ich stürbe vor Angst. Ach, mein liebes Trudchen, nicht wahr, du kommst zu meiner Hochzeit? Ich lade dich ein. Ach, sag doch ‚du‘ zu mir – es macht mich glücklich. Sag, hast du mich lieb? Ich habe keinen Menschen, der mich so recht liebhat – ich bin ja so arm!“
War das merkwürdig von der, so etwas zu sagen! Gertrud dachte darüber nach, als sie nun allein zurückging. ‚Ich bin ja so arm‘ – wie stimmte denn das? Gertrud fuhr plötzlich zusammen, sie hörte ein Weinen.
Durch die Dunkelheit kam etwas hinter ihr hergetrappelt. Nun heulte es laut. Erschrocken blieb sie stehen: Dombrowskis Kinder? „Wo kommt ihr denn her? Wo ist denn eure Mutter?“
Die kleine Minna faßte verängstigt nach Gertruds Kleid und klammerte sich an: „Huh, so dunkel, ’s is so dunkel!“
Der Junge aber schimpfte los: „Mutter –? Och die! Hat uns nach Hause jeschickt. Die amesiert sich!“
Was sollte das heißen? Die amüsierte sich? Gertrud wollte eben, getrieben durch ein seltsam gemischtes Gefühl von Abneigung und einer gewissen Verantwortlichkeit, den Jungen ausfragen, als durch das Dunkel des Abends ein dumpfes Summen ging. Ein fernes Hallen. Das waren die Glocken der Kirche. Die lag weitab, und der Wind stand nicht von dorther, aber man erkannte doch das langsam-schwere, feierliche Dröhnen.
Sie hielt ihren Schritt an, sie gebot dem Jungen, der laut weiterschimpfte, Stille. Nun hörte man’s deutlicher. Diese tiefe, ernste, erzene Stimme. Läuten um diese Zeit? Der Nachmittagsgottesdienst war längst vorbei, Begräbnisse fanden so spät nicht mehr statt; das konnte nur Sieg sein. Wenn es absetzte, dreimal von neuem sich erhob. Man kannte das, zu vielen Siegen schon hatten die Glocken geläutet, vor kaum drei Wochen erst für das große Warschau; man war fast gewöhnt daran, bereits wie abgestumpft.
Trotzdem kehrte Gertrud um – Sieg?! Horch! Jetzt huben sie an zum drittenmal! Und wenn sie persönlich denn auch nichts mehr zu verlieren hatte und nichts zu gewinnen, es trieb sie nun doch dem Bahnhof zu. Nicht so allein sein zu solcher Stunde. Da waren die andern, Menschen genug jetzt, da würde sie erfahren, was für ein Sieg es war. Und ob nun bald Friede sein würde.
Über den abendlich-stillen Ort hin hatten die Glocken gerufen: Sieg! Am Bahnhof drängte man sich. So voll wie heute war es selbst dann nicht dort, wenn auf dem Ferngleis Truppentransporte vorbeifuhren. Die hielten hier nicht; aber man winkte den Feldgrauen, die aus den bekränzten, mit allerlei Kreideinschriften bekritzelten Wagen halben Leibes heraushingen, und rief ihnen gerührte Worte des Grußes und des Abschieds nach. Die Worte gingen zwar verloren in der rasselnden Windesschnelle, die winkenden Grüße aber wurden erwidert mit stark gebrülltem Hurra. Jetzt drängte sich die Menge vor dem Anschlag neben der Bahnhofstür.
„Die Festung Nowogeorgiewsk, der letzte Halt des Feindes in Polen, nach hartnäckigem Widerstand genommen. Die gesamte Besatzung, davon gestern im Endkampfe allein über 20 000 Mann, und vorläufig unübersehbares Kriegsmaterial fielen in unsere Hände.“
Mit hastig hinfliegenden Blicken las man’s – stumm. Das war nicht mehr der Jubel der Begeisterung wie bei den ersten Malen, der Krieg dauerte nun schon über ein Jahr.
„Mutter, haben die nu bald verspielt?“ fragte plötzlich eine Kinderstimme ganz laut.
Die Mutter hatte im ungewissen Sternenlicht, mühsam herausstudierend, halblaut gelesen, nun schwieg sie verlegen. Die hohe Kinderstimme war weithin vernehmbar. Die zunächst Stehenden lachten. „Sei stille“, wisperte die Mutter.
„Dann kommt unser Vater auch wieder, nich wahr, Mutter?“ fragte die Kleine unbeirrt weiter.
Die Frau schüttelte stumm-verneinend den Kopf; sich durch das Gedränge hastig Bahn brechend und das Kind hinter sich dreinziehend, lief sie davon.
Es war die Frau des Schlossers Frank von der Ecke am Markt, er war vor vierzehn Tagen am Narew gefallen. „Nu sitzt sie da mit dem großen Geschäft – ’n paar alte Gesellen hat sie vor der Hand wohl noch – er hat alles ins Geschäft reingesteckt – schlimm für sie, schlimm für die Kinder – fünfe hat se, alle noch klein!“
„Die ist noch nich am schlimmsten dran“, sagte eine andere Stimme. „Aber wenn sie nur den Mann hat, weiter nichts, kein Geschäft und keine Kinder – nur den Mann!“
Sie blickten sich alle um nach der wehen Stimme, die sich wie ein Verzweiflungsseufzer erhob.
Die kleine verkümmerte Frau duckte sich scheu. Das hatte sie nicht gewollt, daß alle nach ihr hinsahen, es war ihr nur so herausgefahren, wider ihren Willen laut. Als ob sie selbst durch die Dunkelheit jeden mitleidigen Blick als Beleidigung fühle, kroch sie ganz in sich zusammen. Sie wollte niemandes Mitleid, es brauchte sich keiner um sie zu kümmern, sie hatte auch keinen nötig, leben wollte sie ja nicht mehr. Sich verkriechen wie ein krankes Tier und sterben, das wollte sie.
In einem hilflosen Weinen, wie ein verlassenes Kind schlich sie eben davon, da legte sich eine Hand auf ihre Schulter: „ Liebe Frau!“ Es lag ein großer Nachdruck auf dem liebe , eine herzliche Freundlichkeit im Ton.
Die Generalin von Voigt war durchaus nicht sentimental, ihr Mann hatte sie dazu erzogen, jede Sache so gelassen wie möglich zu nehmen. „Das Leben ist wie der Feind“, hatte er ihr oft gesagt, als sie noch jünger und leicht aus der Fassung zu bringen war, „man macht sich die Stellung klar, nimmt ihn scharf aufs Korn, rückt dann Schritt für Schritt – immer kalt Blut – immer weiter vor, ruhig vor – aber dann: zugepackt.“ Sie hatte es lernen müssen, an sich zu halten. Aber jetzt ging doch das Gefühl mit ihr durch – diese Frau, diese arme, einsam Gewordene! Ihre aufrechte Gestalt ein wenig niederbeugend zu der kümmerlich-kleinen, sagte sie mit der inneren Überzeugung, die auch andere überzeugt: „Sie sind nicht verlassen, liebe Frau. Sie haben noch eine Mutter – unsere deutsche Heimat. Der hat Ihr Mann Sie als Vermächtnis hinterlassen. Er hat Ihnen ein Anrecht erworben. Und unsere deutsche Heimat ist eine gute Mutter, die sich ihrer Kinder annimmt!“
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