»Nein«, erwiderte David sofort und schüttelte entschieden den Kopf. »Onkel George wird nicht zulassen, dass wir verhungern.«
»Ihm ist das doch egal.«
»Das meinst du doch nicht wirklich, Paul. Du weißt doch, dass Onkel George uns alle mag.«
Paul wirbelte wütend und mit funkelnden Augen zu seinem Bruder herum. Im Laufe der Jahre hatte sich eine Härte in sein Wesen eingeschlichen, die niemand erklären konnte. Er hatte nichts von der Sanftheit seiner Mutter oder der Liebe seines Vaters für andere geerbt und er verabscheute ihre Armut. Seit dem Unfall seines Vaters war diese harte Seite von Pauls Charakter deutlicher zutage getreten. Mit knapp fünfzehn Jahren war Paul Wakefield zu einem verbitterten jungen Mann geworden.
Im Krankenzimmer begrüßten sich die beiden Brüder und George setzte sich auf das Bett des Kranken. Beim Anblick von Andrews einst so starken und sportlichen Körper war George schockiert. Er ist ja vollkommen zusammengeschrumpft , dachte George. Das Fieber und die Krankheit hatten tatsächlich alles Fleisch von Andrew Wakefields Körper aufgezehrt. Seine Wangen waren eingefallen und die Augen tief in ihre Höhlen eingesunken. Die Hand, die er seinem Besucher reichte, bestand nur noch aus Haut und Knochen.
George war nicht in der Lage gewesen, die Gefühle zu verbergen, die ihn beim Anblick seines Bruders ergriffen, und Andrew flüsterte sofort: »Mach dir keine Sorgen, George.«
»Mein lieber Bruder – mein lieber Junge …!«, murmelte George. Es fiel ihm schwer, seine Gefühle zu verbergen – die wenigen, die er hatte. George Wakefield hatte für tiefgehende Gedanken, Philosophie und Religion nicht viel übrig, doch nun war er sehr betroffen. Vielleicht war der Grund dafür der Anblick des zusammengesunkenen Körpers seines Bruders und die schwache, aber beharrliche Stimme, die ihn an seine eigene Sterblichkeit erinnerte. In diesem Raum wartete der Tod. George hatte die unheimliche Vorstellung, dass er, falls er sich umdrehte und in die dunkle Ecke hinter sich starrte, eine Gestalt in Schwarz erblicken würde – die auf die Seele seines Bruders wartete! Er bemühte sich, dieses seltsame Gefühl zu unterdrücken, und hielt die Hand seines Bruders.
»Du musst nicht denken, ich sei unglücklich«, sagte Andrew leise und mit schwacher Stimme. Das Sprechen strengte ihn sehr an, aber ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen und aus seinen Augen sprachen Liebe und Zuneigung. »Ich bin froh, dass du gekommen bist. Ich wollte mich von dir verabschieden.«
Georges Lippen zitterten und er versuchte, etwas herauszubringen, doch er schaffte es nicht. Normalerweise war er nicht sentimental veranlagt, doch nun traten Tränen in seine Augen. »Mein lieber Andrew. Ich – ich kann dich nicht gehen lassen!«
»Wir alle müssen einmal gehen, George, früher oder später. Das ist eine Reise, vor der sich kein Mensch drücken kann. Könige wie Bettler müssen sich mit dem Sterben abfinden«, sagte Andrew leise. »Ich habe Jesus treu gedient, und nun sieht es so aus, dass ich ihn früher sehen werde, als ich erwartet hatte. Ich finde das nicht schlimm – ich sehne mich sogar danach, den zu sehen, der für mich gestorben ist und mich so treu erhalten hat. Aber bevor ich zu ihm gehe, wollte ich noch mit dir – wie schon häufiger – über deine Beziehung zu Gott sprechen.«
Andrew Wakefield hatte tatsächlich häufig mit seinem Bruder über seinen Glauben gesprochen, jedoch war es ihm nie gelungen, zu ihm durchzudringen. Doch als George nun vom Schmerz gebeugt am Krankenbett seines Bruders saß und Andrew voller Leidenschaft von der Liebe Jesu und der Notwendigkeit sprach, mit Gott ins Reine zu kommen, hörte George zu.
Während Sir George Wakefield Andrews Worten lauschte, dachte er: Was für ein selbstsüchtiger Mensch bin ich doch gewesen! Und wie selbstlos ist dagegen mein Bruder. Er wird nun bald vor Gott stehen … er ist in Sicherheit … aber was wird aus mir?
»George, du musst dein Vertrauen auf Jesus setzen«, sagte Andrew. Seine Stimme war auf einmal fest und lebendig. Er umklammerte die Hand seines Bruders und blickte ihn eindringlich an. »Es würde mich so glücklich machen zu wissen, dass du das getan hast. Ich weiß, dass du Mitglied der Kirche bist, aber du musst dich Jesus ganz hingeben – mit allem, was du hast! Das ist sehr schwierig, doch ich, der ich nun vor den Toren der Ewigkeit stehe, trauere über die Bereiche meines Lebens, die ich nicht Gott überlassen habe. Wenn es ans Sterben geht, George, sollst du sagen können, dass du Jesus ganz gehörst!«
Dorcas war ins Zimmer geschlüpft und hörte schweigend zu. Sie wusste, wie sehr sich Andrew um seinen Bruder sorgte. Niemand konnte sagen, welche Beziehung George zu Gott hatte, denn er behauptete von sich zwar, Christ zu sein, aber er war nur ein Namenschrist. Doch nun erkannte Dorcas, dass er tief bewegt war.
Ein Schluchzen entrang sich George. »Sag nichts mehr, lieber Bruder! Ich verspreche dir, ich werde für mein Seelenheil sorgen, das werde ich. Ich werde mich Gott ausliefern – du hast mein Ehrenwort darauf!« Er drehte sich um, denn bei seinen Worten hatte Dorcas einen Freudenschrei nicht unterdrücken können. George starrte sie mit Tränen in den Augen eine Zeit lang an, dann drehte er sich wieder um und drückte die Hand seines Bruders. »Andrew«, flüsterte er mit brechender Stimme. »Um eines möchte ich dich bitten – sorge dich nicht um deine Familie. Ich werde dafür Sorge tragen, dass sie keine Not leiden werden, so wahr mir Gott helfe! Sie wird sein wie meine eigene, das verspreche ich dir.«
Andrew blickte ihn warm an und drückte seine Hand. »Das ist das, was mich, abgesehen von deinem Versprechen, dich selbst Gott zu geben, am glücklichsten macht. Ich danke dir, lieber Bruder!«
Zwei Tage kämpfte Andrew Wakefield noch mit dem Tod. Er sprach mehrmals mit George und beiden taten diese Gespräche gut … doch das Ende war nahe. Die Menschen, die den Kranken pflegten, konnten von Stunde zu Stunde sehen, wie er immer schwächer wurde. Schließlich war er nicht mehr in der Lage, Nahrung zu sich zu nehmen. Um drei Uhr an einem Mittwochnachmittag im Februar 1756 kam das Ende. Die ganze Familie war im Krankenzimmer versammelt und auch die Familie Morgan, von der er sich bereits verabschiedet hatte.
Das kleine Zimmer war überfüllt. Dorcas stand an Andrews rechter, seine beiden Söhne an seiner linken Seite. David kniete am Bett seines Vaters, doch Paul stand hoch aufgerichtet und mit ausdruckslosem Gesicht an seiner Seite. Alle lauschten auf das stoßweise Atmen des Sterbenden.
»Er stirbt«, flüsterte Dorcas. »Oh Andrew, kannst du mich hören?« Sie streichelte sein Gesicht und bei ihrer Berührung öffnete er die Augen.
»Dorcas –«
»Ja, mein Geliebter?«
»Erinnerst du dich noch an unsere Hochzeit? Wie wir versprochen haben, uns zu lieben?«
»Oh ja, natürlich erinnere ich mich daran …!« Dorcas rannen nun die Tränen über die Wangen, und sie machte keinen Versuch, sie aufzuhalten. Sie tropften auf Andrews Hand, doch er schien sie nicht zu bemerken.
»Ich erinnere mich noch so gut an diesen Tag«, sagte Andrew leise.
Ein langes Schweigen erfüllte den Raum. Das einzige Geräusch war das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims und das schwache Atmen des Sterbenden. Schließlich blickte Andrew seine beiden Söhne an und sagte mit neuer Kraft, die ihn für einen Augenblick aufzurichten schien: »David – liebe Gott.«
»Ja, Vater, das werde ich. Ich – ich liebe dich, Vater.« David nahm die Hand seines Vaters und küsste sie, dann barg er sein Gesicht in der Bettdecke.
»Paul?«
Paul beugte sich vor und ergriff unbeholfen die Hand seines Vaters. Er sagte nichts, doch sein Vater bemerkte die Härte im Gesicht seines Sohnes. »Lass nicht zu, dass mein Tod dich bitter macht. Ich liebe dich, mein Sohn, und ich habe dafür gebetet, dass Gott dich erhalten möge und dich zu einem mächtigen Mann Gottes macht.«
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