1 ...7 8 9 11 12 13 ...20 Paul meinte steif: »Wir sind dir sehr dankbar, Onkel George.«
Sie drehten sich um und verließen den Raum. Für George bedeutete es eine große Anstrengung, in die Kutsche zu steigen. Die Jungen halfen ihrer Mutter hinein und kletterten dann selbst hinein. George lehnte sich aus dem Fenster und rief: »Also los, Haines, bring uns nach Wakefield.«
Als die Kutsche sich in Bewegung setzte, blickte Dorcas aus dem Fenster. Das Häuschen, in dem sie mit Andrew die glücklichsten Jahre ihres Lebens verbracht hatte, verschwand aus ihrem Blick. Sie hielt ihr Gesicht von den anderen abgewandt, damit sie ihre Tränen nicht sehen konnten.
Aber David bemerkte sie doch. Er nahm Dorcas’ Hand und drückte sie. »Es wird alles gut werden, Mutter«, flüsterte er. »Du wirst sehen.«
»Natürlich wird es das.«
Paul jedoch sagte kein Wort und warf auch nicht einen Blick zurück auf ihr Haus, wie David es tat. Er hielt seine Augen starr auf das Innere der Kutsche gerichtet und schien gar nichts zu denken. Nur seine Mutter entdeckte das Zucken seiner Lippen, aber sie wusste, es war sinnlos, mit ihm zu sprechen. Darum lehnte sie sich still in ihren Sitz, während der Kutscher die Pferde zum Herrenhaus der Wakefields lenkte – wo auf Dorcas Wakefield und ihre beiden Söhne ein neues Leben wartete.
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Februar 1757
Als David Wakefield das Geschäft des Stiefelmachers verließ, blickte er glücklich auf seine glänzenden schwarzen Stiefel, die nun seine Füße zierten. Er hatte immer Schwierigkeiten gehabt, passende Schuhe und Stiefel zu finden, darum trug er seine Schuhe immer, bis sie ihm praktisch von den Füßen fielen. Eine Woche zuvor hatte seine Mutter schließlich darauf bestanden, dass er ein paar neue brauchte. »David, diese Stiefel sind eine Schande!« Sie hatte ihm aufgetragen, sich im Dorf ein Paar neue anpassen zu lassen. Nur widerwillig hatte er sich auf den Weg gemacht.
Dies war eine ungewohnte Erfahrung für David, denn er hatte sich noch nicht an den Lebensstil gewöhnt, mit dem er und seine Familie nun, nachdem sie von Cornwall nach Wakefield gekommen waren, konfrontiert wurden. Sein ganzes Leben lang hatte er von seinem Vater oder seiner Mutter die Worte gehört: »Das können wir uns einfach nicht leisten …« Solche Worte hörte man in Wakefield niemals! Kleider, Stiefel, Schuhe, ein Sattel und sogar ein Pferd standen immer zur Verfügung.
Ich könnte mich daran gewöhnen, reich zu sein , dachte David, als er die Straße entlangging. Fast allen, denen er begegnete, nickte er freundlich zu, denn Wakefield war ein kleines Dorf, und in dem Jahr, in dem er mit seiner Mutter und seinem Bruder bei Sir George Wakefield und seiner Frau Caroline lebte, hatte er jeden kennengelernt. Es war ein klarer Morgen, und die Sonne begann bereits die Steine des Kopfsteinpflasters zu erwärmen, über das David marschierte. Bald würde der März anbrechen und der Frühling nach England kommen. Die Grashalme würden die harte Erde durchbrechen und wilde Blumen auf den Wiesen und Feldern aufblühen.
David atmete tief durch und betrachtete erneut seine Stiefel. Sie passten hervorragend und er wurde von einer Welle des Glücks erfasst. Der Stiefelmacher verstand sein Handwerk, denn die Stiefel saßen an seinen Füßen wie eine zweite Haut. »Herr, wie schön ist es, Schuhe zu haben, die passen!«, murmelte er leise. Es war gleichzeitig ein Ausruf der Freude, aber auch ein Dankgebet. Er ging weiter und war sicher, dass alle seine neuen Stiefel bewunderten. Bei dieser Vorstellung musste er laut lachen. Paul und er lebten nun schon seit einem Jahr auf Wakefield und beide wurden bald sechzehn. Damals in Cornwall wären die Sachen, die er jetzt trug, etwas ganz Besonderes gewesen, doch auf Wakefield waren es Alltagskleider: Ein weißes Batisthemd mit Rüschen vorne und an den Manschetten, eng anliegende Kniehosen aus leichter Wolle, schwere weiße Seidenstrümpfe und eine kurze Wolljacke.
David wurde von dem köstlichen Duft einer Bäckerei angelockt. Er zögerte nur kurz, bevor er eintrat. »Guten Morgen, Mr Brown«, sagte er zu dem Besitzer, einem kleinen dicken Mann mit einer weißen Schürze. »Sind die Törtchen frisch?«
»Das sind sie allerdings Mr – äh, seid Ihr nun Mr David oder Mr Paul?«
David war mittlerweile daran gewöhnt, dass niemand sie auseinanderhalten konnte, und lächelte. »Versucht nicht, uns auseinanderzuhalten, Mr Brown, Das gelingt sowieso keinem. Mr Wakefield reicht aus.«
»Ich habe noch nie zwei junge Männer kennengelernt, die sich so ähnlich gesehen haben«, sagte Brown und schüttelte verwundert den Kopf. Dann konzentrierte er sich auf die geschäftlichen Angelegenheiten. Er hob den mit einem weißen Tuch abgedeckten Teller hoch, nahm das Tuch ab und präsentierte dem jungen Mann stolz seine Waren. »Ich wage zu sagen, dass es in ganz England keine besseren Törtchen gibt.«
»Ich nehme ein halbes Dutzend, Mr Brown.«
»Ein halbes Dutzend, wie Ihr wünscht, Sir«, wiederholte Brown eifrig und wickelte schnell sechs der Törtchen in ein Papier ein. Er reichte sie David, der ihm dafür eine Münze gab und zufrieden nickte. »Guten Tag, Sir.«
»Guten Tag, Mr Brown.«
David verließ das Geschäft, doch der Duft der Törtchen war zu verlockend. Er blickte sich auf der Hauptstraße des Dorfes – eigentlich der einzigen Straße – um und ging zu der Bank, die vor dem Geschäft des Kesselflickers stand. »Habt Ihr etwas dagegen, wenn ich mich auf Eure Bank setze, Mr Stallings?«
»Natürlich nicht, Master Wakefield. Sieht so aus, als hättet Ihr Euch heute Morgen ein gutes Frühstück mitgebracht.«
»Versucht eines der Törtchen, Mr Stallings«, erwiderte David lächelnd. Er gab dem Kesselflicker ein Gebäckstückchen und die beiden setzten sich und bissen genussvoll in den Kuchen. Er zerging ihnen förmlich auf der Zunge. Als Stallings mit einem Kunden hineinging, blieb David sitzen und aß langsam weiter. Wie in allem ging er auch hierbei sehr methodisch vor. Er nahm kleine Bissen, kaute nachdenklich und genoss den Geschmack. Paul hätte seines mittlerweile schon vollständig aufgegessen, denn wie bei den meisten Dingen unterschieden sich die beiden Zwillinge in ihren Essgewohnheiten vollkommen voneinander.
Mit halb geschlossenen Augen dachte David an das Buch, das er am vorhergehenden Abend gelesen hatte – ein Gedichtband von einem Prediger mit Namen John Donne. David hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis und konnte sich praktisch das gesamte Gedicht wieder in Erinnerung rufen, das er am Abend wieder und wieder gelesen hatte. Es war ein ungewöhnliches Gedicht, und er war erstaunt gewesen festzustellen, dass der Dichter ein Kirchenmann war. Er dachte an die Worte und freute sich an den Bildern und Ausdrücken genauso sehr wie an dem Kuchen, den er gerade gegessen hatte.
David dachte über jeden Aspekt des Gedichtes eine Zeit lang nach. Die Sonne war warm und die Straße angenehm lebendig mit dem Lärm eines englischen Dorfes am Morgen. Als er in der Tüte nachsah, war er erstaunt festzustellen, dass sie leer war. Ich habe alle aufgegessen! Beschämt darüber, ein solcher Vielfraß zu sein, faltete er das Papier zusammen und steckte es in seine Tasche. Dann erhob er sich und ging zum Hufschmied zurück, wo er sein Pferd abgestellt hatte.
»Ach, da bist du ja, mein Hübscher!«
Eine junge Frau von etwa achtzehn Jahren tauchte auf und nahm David am Arm. Sie war ein süßes Ding mit einer Fülle von blonden Haaren und betörenden grünen Augen. Ihre üppige Figur wurde durch ihr Kleid sehr gut zur Geltung gebracht. Als sie sich an den erstaunten David drückte, flüsterte sie: »Wie wär’s? Sollen wir uns wieder am Fluss treffen?«
Sofort wurde David klar, dass das Mädchen, wer immer es war, ihn mit Paul verwechselte. Er selbst hatte praktisch keinerlei Kontakt zu jungen Frauen, aber von Paul wurden sie magisch angezogen. Sie liefen ihm nach, ohne dass er viel dazu zu tun brauchte.
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