Dorcas sah sich im Zimmer um und dachte: Dieser Raum und seine Möbel kosten vermutlich mehr als unser ganzes Haus mit seinem gesamten Inventar in Cornwall. Doch schnell senkte sie den Blick wieder, als die Traurigkeit über sie kam. Andrew war nun seit einem Jahr tot, aber nicht ein einziger Tag verging, ohne dass sie an ihn dachte. Trotzdem, in vielerlei Hinsicht war das Leben für sie jetzt sehr viel leichter. Es gab keine Geldprobleme mehr. Caroline und George sorgten sehr gut für sie. Es war so schön zu sehen, dass ihre Jungen jetzt prächtige Kleider trugen und die beste Ausbildung durch Tutoren erhielten. Schon bald würden sie nach Oxford gehen; so war es zumindest geplant.
»Ich mache mir Sorgen um George.« Caroline blickte plötzlich auf und legte ihr Buch auf den Schoß. Nervös spielte sie mit dem Seidenkissen neben sich.
»Ich weiß. Ich wollte nichts sagen, aber er sieht überhaupt nicht gut aus.«
»Der Arzt sagte, man könne nichts machen«, berichtete Caroline leise. Sie blickte auf. Traurigkeit war in ihrem Blick zu lesen, doch dann lächelte sie. »Du und die Jungen sind mir ein solcher Trost gewesen.«
Die beiden Frauen plauderten eine Weile miteinander. Bethany, die zu Besuch war, beschäftigte sich mit Papier und Schere. Mit ihren sieben Jahren war sie das hübscheste – und klügste – Mädchen, das die Bewohner Wakefields je gesehen hatten. Sie hatte einen scharfen Verstand und sehr schnell das Lesen gelernt. Stundenlang hatte David ihr vorgelesen, während sie an ihm hing und in das Buch sah. Schon früh hatte er es sich angewöhnt, mit dem Finger über die Worte zu fahren, damit sie lernen konnte, sie zu erkennen. Und da er dieselben Geschichten immer und immer wieder vorlas, hatte sie es sehr schnell begriffen.
Als sie ein Pferd herannahen hörte, sprang Bethany auf und rannte zum Fenster. »Es ist David!«
Sie rannte aus dem Zimmer zur Tür und Dorcas schüttelte den Kopf. »Es ist schon fast eine Sünde, wie dieses Kind David anbetet.«
»Warum sollte sie auch nicht? Er verwöhnt sie schrecklich. Er ist Bethanys großes Spielzeug! Ich habe noch nie erlebt, dass David ihr etwas abgeschlagen hätte.«
Nach wenigen Minuten kam Bethany zurück. »David ist verletzt!«, verkündete sie, und ihr Gesicht war von Schmerz verzerrt, als wäre sie selbst verletzt.
Verwirrt erhoben sich beide Frauen und eilten zur Küche, wo sie David vorfanden, der sein Gesicht in einer Schüssel wusch. Er wandte sich zu ihnen um und sie sahen, dass ein Auge beinahe zugeschwollen und seine Unterlippe aufgeplatzt war.
»Was ist passiert, David?«
»Ach, nur ein kleiner Unfall. Wirklich keine große Sache.«
»Komm, lass mich das abwaschen«, sagte Bethany mit blassem Gesicht. Sie bestand darauf, dass David sich setzte, machte den Lappen nass und wusch ihm vorsichtig das Gesicht. David bemühte sich darum, das Thema zu umgehen und die Fragen seiner Mutter abzutun.
»Eine kleine Meinungsverschiedenheit«, erklärte er. »Nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste. Komm, Bethany, wir wollen ein wenig lesen.«
Sofort nahm Bethany seine Hand und führte ihn zur Bibliothek, ihrem Lieblingsraum im Haus.
»Irgendetwas stimmt da nicht«, meinte Dorcas nervös. »David war in eine Schlägerei verwickelt.«
»Sieht so aus, als hätte er schlimme Schläge einstecken müssen. Ich wäre nicht überrascht, wenn es Paul gewesen wäre, aber David – so etwas traut man ihm gar nicht zu.« Weiter wurde nichts mehr gesagt, aber beide Frauen waren von dem Zwischenfall beunruhigt.
In der Bibliothek drückte Bethany David auf die Couch und suchte sich ein Buch. »Lies das hier vor.«
»Das wird dich bestimmt nicht interessieren. Es ist ein Geschichtsbuch, Holinsheds Chronicles. Nur eine Geschichte von alten Königen, die schon lange tot sind.«
»Das macht nichts. Ich möchte es hören.«
David zuckte die Achseln und nahm das Buch zur Hand. Er hatte es bereits gelesen, denn es war das Buch, das die Grundlage zu Shakespeares Geschichtsdramen bildete. Die meisten waren schrecklich langweilig. Aber er begann zu lesen und gleichzeitig dachte er über die Schlägerei und über Paul und Molly Satterfield nach. Doch schon bald wurde seine Aufmerksamkeit auf das kleine Mädchen an seiner Seite gelenkt, das seinen Arm umklammert hielt und ihm so viele Fragen stellte, dass er sich auf das Lesen und die Beantwortung ihrer Fragen konzentrieren musste. Sie war ein süßes Kind und David war ihr immer sehr zugetan gewesen. Als er jetzt auf sie herabsah, bewunderte er ihr schwarzes Haar und die blauen Augen, die so dunkel waren, dass sie fast schwarz erschienen. Sie wird einmal eine Schönheit , dachte er und fragte sich, was für ein Mensch sie sein würde, wenn sie erwachsen war.
Die Sache hatte natürlich ein Nachspiel, womit David auch gerechnet hatte. Er und Paul wurden von Ives, dem Butler, geholt. »Sir George möchte Euch in seinem Arbeitszimmer sprechen.«
»Ich frage mich, was er jetzt schon wieder will«, sagte Paul und strich sich die Haare glatt. Im Spiegel bewunderte er seine Erscheinung in den neuen Kleidern. »Nicht schlecht. Was meinst du?« Paul trug Kniehosen aus feiner burgunderfarbener Wolle, ein weißes Seidenhemd mit Rüschen an den Manschetten und eine bis in die Taille geknöpfte Jacke aus blauem und schwarzem Stoff. Auf seine weißen Seidenstrümpfe war an den Knöcheln eine Uhr aufgestickt. Dazu trug er schwarze Lederschuhe mit einer großen Silberspange.
Doch David dachte nicht an Pauls Kleider und sagte nervös: »Wir wollen mal sehen, was Onkel George von uns will.«
Die beiden jungen Männer stiegen die Treppe hinunter, gingen den langen Flur entlang und betraten das Arbeitszimmer des Herrn von Wakefield.
Beide erkannten den Sheriff, einen mageren Mann mit Namen Epps. Paul war sofort auf der Hut. Seine Augen verengten sich.
»Einer von Euch beiden ist beschuldigt worden, einen jungen Mann mit Namen Ebon Satterfield angegriffen zu haben.«
»Ebon Satterfield? Ja, den Burschen kenne ich. Ein Hüne von einem Mann und ein Tunichtgut durch und durch«, meinte Paul beiläufig.
»Sein Vater beschuldigt Euch. Einer von Euch hat ein Messer gezogen und ihn damit am Hals verletzt.«
»Wer von uns?«, fragte Paul freundlich. »Werde ich beschuldigt oder mein Bruder?«
Epps war verblüfft, weil die beiden genau gleich aussahen. Er sagte: »Paul Wakefield wird beschuldigt.«
Paul schien das Ganze zu amüsieren, doch David fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. »Kommt schon«, sagte Sir George. »Ihr müsst doch eine genaue Identifizierung haben. Welcher meiner Neffen wird beschuldigt?«
Das Gespräch dauerte nur zehn Minuten und am Schluss hatte Sir George die Geschichte von David erfahren. Er wusste, es war die Wahrheit. »Es sieht so aus, als sei mein Neffe David von Ebon Satterfield angegriffen worden. Er wurde von ihm verprügelt, und anscheinend war es mein Neffe Paul, der verhindert hat, dass er bewusstlos geschlagen wurde. Geht zu Mr Satterfield und sagt ihm, ich würde ihn vor Gericht bringen, falls er noch ein einziges Wort in dieser Angelegenheit von sich gibt!«
»Sehr wohl, Sir«, erwiderte Epps nervös. »Ich werde ihm das ausrichten. Tatsächlich ist es so, dass ich es ihm bereits gesagt habe. Aber er ist sehr eigensinnig.«
»Sagt es ihm noch einmal«, meinte George. Er sah zu, wie der Sheriff seinen Hut nahm und ging, dann wandte er sich an David und sagte: »David, würdest du uns bitte entschuldigen? Ich möchte mit Paul sprechen.«
»Ja, Onkel.«
Sobald David das Zimmer verlassen hatte, ließ sich Sir George auf seinen Schreibtischstuhl sinken. »Setz dich«, sagte er kurz angebunden. Paul hatte gelernt, die Launen seines Onkels zu unterscheiden, und im Augenblick war er nicht bester Stimmung. Er ging schweigend zum Schreibtisch und setzte sich, wartete darauf, dass sein Onkel mit seiner Predigt beginnen würde, die nun unweigerlich kommen musste.
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