»Du wirst wieder gesund werden, Vater«, erwiderte David tapfer. Paul schwieg. Er suchte im Gesicht seines Vaters nach einer Antwort, konnte jedoch keine finden.
Andrew Wakefield wusste, dass Gott Wunder tun konnte. »Wir werden darauf vertrauen, dass Gott mir wieder Gefühl in den Beinen schenkt. Und wir werden geduldig sein. Gottes Wille soll geschehen.«
Stille erfüllte den Raum. David konnte die Tränen nun nicht mehr zurückhalten. Er wischte sie mit seinem Ärmel ab und nahm das ermutigende Lächeln seines Vaters an. Aber Paul Wakefield weinte nicht. Seine Lippen pressten sich zornig aufeinander und er dachte: Warum muss Gott meinem Vater das antun? Das ist nicht gerecht! Er sprach seine Gedanken jedoch nicht aus, aber die Rebellion stand ihm ins Gesicht geschrieben. Als Dorcas den Blick hob, erkannte sie es. Sie schüttelte leicht den Kopf, aber Paul wandte das Gesicht ab, damit sein Vater die Verbitterung in seinen Augen nicht erkennen konnte.
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Dezember 1755 – Februar 1756
Im Dezember 1755 hielt der Winter England eisern im Griff. Noch Jahre später wurde von dem »schlimmen Winter« gesprochen, und alle wussten, welches Jahr gemeint war. Bäume wurden von der Kälte gespalten, das Vieh erfror und die ganze Insel schien in die Polarzone getrieben worden zu sein. Im Februar 1756 schien das Schlimmste überstanden zu sein. Noch immer war der gefrorene Boden von Schnee bedeckt, aber wenigstens waren die Temperaturen erträglich. Die Menschen seufzten erleichtert auf und freuten sich auf den Tag, wenn der warme Atem des Frühlings ihre Insel auftauen und das Gras wieder aus der Erde hervorsprießen würde.
Am 10. Februar saß Sir George Wakefield in seinem Wohnzimmer und wärmte seine Füße am prasselnden Feuer. Seine Frau Caroline saß ihm gegenüber und las im Licht einer Walöllampe in einem Buch. Sie sah häufig auf. Besorgnis machte sich auf ihrem Gesicht breit, während sie ihren Mann betrachtete. Er saß mit über dem Bauch gefalteten Händen in seinem Sessel und das einzige Lebenszeichen war das gleichmäßige Heben und Senken seiner Brust.
Die Tür zum Arbeitszimmer öffnete sich und ein Diener in schwarzer Kleidung trat ein. Obwohl vollkommen gesund, war er sehr blass und sah aus, als gehöre er eher in einen Sarg. »Sir George …«, flüsterte er. Wakefield bewegte sich und blinzelte schläfrig. »Ja? Was ist, Ives?«
»Ihr habt Besuch, Sir. Ein Mr Gareth Morgan.«
»Morgan?« George schüttelte sich und schob den Hocker zurück. »Führ ihn herein, Ives.«
»Jawohl, Sir.«
»Was macht Gareth um diese Zeit hier?«, murmelte Wakefield. Er richtete sich auf und erhob sich.
Auch Caroline hatte sich erhoben. Sie zog ihr dunkelrotes Kleid mit dem weißen Pelzkragen zurecht. Es war spät, bereits vier Stunden nach Sonnenuntergang. Nur wenige wagten sich bei diesem Wetter vor die Tür. »Ich weiß es auch nicht. Hattest du ihn denn erwartet, George?«
»Aber natürlich nicht. Habe nichts von ihm gehört – du etwa?« Seine Frage hatte einen seltsamen Unterton, denn Gareth Morgan hatte um Caroline Barksdale geworben, bevor George ihr Herz erobert hatte.
Wakefield war sich nie so ganz über die Gefühle seiner Frau für Gareth Morgan im Klaren gewesen, denn trotz seines Titels und seines Reichtums gab es keinen Mann in ganz England, der besser aussah als Gareth Morgan. Von Natur aus war Wakefield jedoch nicht misstrauisch veranlagt, und die Eifersucht, die ihn dann und wann plagte, verblasste schnell wieder. Er wandte sich der schweren Eichentür zu und betrachtete den Mann, der eintrat.
Gareth Morgan hatte seinen Mantel und seinen Hut abgelegt, doch an seinen Stiefeln hing noch etwas Schnee, und sein Gesicht war gerötet, als er in das warme, geräumige Zimmer trat. »Ziemlich kalt draußen, Sir George«, sagte er steif. Er wandte sich um und verbeugte sich leicht. »Wie geht es Euch, Lady Wakefield?«
»Sehr gut, Gareth, vielen Dank«, erwiderte Caroline. Auch sie erinnerte sich noch an die Zeit, als Gareth ihr den Hof gemacht hatte. Bei einigen Frauen blieb die Erinnerung an die jugendliche Verliebtheit, und Caroline hatte sich oft gefragt, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie Gareth geheiratet hätte.
Ich bin viel zu verwöhnt , dachte sie. Vermutlich hätte es mir gar nicht gefallen, mit einem armen Prediger verheiratet zu sein. Sie mochte Gareth und seine Familie. Sarah, Gareths Frau, war jahrelang mit ihr befreundet gewesen und auch jetzt besuchten sie sich gelegentlich und standen in Briefkontakt. »Geht es Eurer Familie gut?«
»Ja, sehr gut«, erwiderte Gareth. Er schüttelte George die Hand und meinte dann leise: »Ich bringe schlechte Nachrichten, Sir George.«
George starrte Morgan einen Augenblick lang an und fragte: »Was ist los, Gareth?«
»Es geht um Andrew, Euren Bruder, Sir. Er ist sehr krank. Ihr wisst, dass er sich seit dem Unfall nie wieder richtig erholt hat. Das ist nun schon fast drei Jahre her und er hat seither keinen einzigen Schritt mehr getan«, erklärte Gareth langsam. Er schüttelte den Kopf und fuhr schmerzerfüllt fort: »Er hat keine Bewegung, da er die meiste Zeit im Bett liegt – oder in dem Rollstuhl sitzt, den ich ihm gebaut habe. Diese Untätigkeit scheint seinen Körper geschwächt zu haben. Vor zwei Wochen hat er sich erkältet. Vielen von uns ist es so ergangen, aber seine Erkältung wurde schlimmer.«
»Was sagt der Arzt, Gareth?«, fragte Caroline schnell.
»Er sagt – nun, er sagte, ich sollte Euch besser holen, Sir George.«
Entsetzen machte sich auf Wakefields Gesicht breit. Er und Andrew standen sich nicht so nahe, wie es hätte sein sollen, aber George hegte eine tiefe Zuneigung zu seinem jüngeren Bruder. »Es tut mir leid, das zu hören.«
»Ich glaube, es ist eine Lungenentzündung. Ich bin schnell losgefahren, um Euch zu holen, Sir George. Ich denke, es ist das Beste, wenn wir sofort aufbrechen.«
»Ist es so ernst, Gareth?«, fragte George. Er war sehr groß und hatte beträchtliches Übergewicht. Eine ungesunde Blässe lag auf seinem Gesicht, denn in den vergangenen zwei Jahren hatte es mit seiner Gesundheit nicht zum Besten gestanden. »Wir werden natürlich sofort aufbrechen.«
»Bei diesem Wetter, George?«, protestierte Caroline. »Du kannst nicht fahren. Dir geht es nicht gut.«
»Ich fürchte, mir bleibt keine Wahl, Caroline«, erwiderte Wakefield fest.
»Gareth, Ihr bleibt über Nacht hier und ruht Euch aus. Ich werde sofort aufbrechen, Ihr könnt morgen nachkommen.«
»Nein«, erwiderte Gareth bestimmt. »Ich werde mit Euch zurückkehren, Sir George.«
»Nun denn – geht in die Küche.« Wakefield ging zur Tür, öffnete sie und rief: »Ives, sieh zu, dass die Köchin eine kräftige, heiße Mahlzeit für Mr Morgan zubereitet, und lass Haines die Kutsche anspannen. Wir werden noch heute Nacht nach Cornwall fahren.«
»Das ist sehr freundlich von Euch, Sir«, sagte Gareth, als er zur Tür ging. Seine walisischen Augen funkelten billigend und trotz seiner Müdigkeit machte er sich leichten Schrittes auf den Weg in die Küche.
Nachdem Caroline mit George allein zurückgeblieben war, sagte Caroline: »George, du kannst nicht fahren. Du weißt doch, dass dein Herz in letzter Zeit nicht mehr so richtig mitmacht. Oh, du beklagst dich nicht, aber ich merke es.«
»Ich muss fahren, meine Liebe. Wir sind die einzige Hilfe, die Andrew und seine Familie hat. Ich komme zurück, sobald es ihm wieder besser geht, aber das kann eine Weile dauern.«
Caroline zögerte. »Und wenn er sich nicht wieder erholt?«, fragte sie vorsichtig. »Mir scheint er ernsthaft erkrankt zu sein.«
»Ich weiß es nicht. Im Augenblick kann ich gar nicht richtig denken. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, dass Andrew sterben könnte. Er ist zu jung – und ein zu guter Mensch. Ein besserer Mensch, als ich es bin.«
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