Ein bösartiges Grinsen umspielte Pauls Lippen. Er legte den Kopf zur Seite und fragte: »Willst du wirklich einen von diesen Äpfeln, Priscilla?«
»Oh, lieber nicht! Es ist zu gefährlich!«
Paul zögerte nicht lange. »Komm, David. Wir können uns ein paar Äpfel holen und wieder verschwunden sein, bevor Beddows uns überhaupt bemerkt.«
»Nein, Paul – das gibt Ärger. Mutter und Vater würde das überhaupt nicht gefallen.«
Doch seine Worte trafen auf taube Ohren. »Hier, Priscilla«, sagte Paul, »halte meine Bücher. Ihr beide bleibt hier, während ich uns ein paar von den Äpfeln hole.« Er reichte Priscilla seine Bücher und näherte sich der Steinmauer. Vorsichtig blickte er zur Hütte hinüber, die am hinteren Ende des Obstgartens stand. Eine dünne Rauchwolke stieg aus dem Kamin auf, aber draußen war niemand zu sehen. Paul legte seine Hände auf die Mauer und sprang hinüber. Er rannte zu dem hohen Apfelbaum, einem schon sehr alten Baum, und griff nach dem untersten Ast. Schnell stieg er weiter. Die unteren Äpfel ignorierte er und schon bald war er bis ganz nach oben geklettert. Er pflückte einen von den saftigen roten Äpfeln, steckte ihn in sein Hemd und streckte seine Hand nach dem zweiten aus. Gerade hatte er nach dem dritten Apfel gegriffen, als er einen schrillen Schrei hörte. Er sah zum Haus hinüber und entdeckte Saul Beddows, der von seiner Veranda sprang und wütend mit seinem knorrigen Spazierstock fuchtelte.
»Lauf!«, rief Priscilla und packte David an der Hand. »Komm schon!«
»Wir bleiben besser hier bei Paul.«
»Wir müssen weg!«, drängte sie. »Ich darf auf keinen Fall erwischt werden. Mein Pa würde mich auspeitschen, wenn er herausfände, dass ich Äpfel klaue!«
Paul schnappte sich noch den dritten Apfel, stopfte ihn in sein Hemd und kletterte mit der Geschwindigkeit eines Affen vom Baum herunter. Unten angekommen rannte er, so schnell er konnte, zu der Mauer, dicht gefolgt von Saul Beddows. Mit Leichtigkeit sprang er darüber und lief in den Wald auf der anderen Seite des Weges. Hinter sich hörte er Saul Beddows wütend schimpfen, aber Paul lachte nur, während er immer tiefer im Wald verschwand. Der alte Mann würde ihn nun nicht mehr einholen können. Er kämpfte sich durch den Wald, bog auf einen mit Dornen überwucherten Weg ab und erreichte schließlich eine Viertelmeile von Beddows’ Haus entfernt die Straße wieder. Dort wartete er einen Augenblick und kurz darauf kamen David und Priscilla die Straße entlanggerannt.
»Hier, bitte, Priscilla«, sagte Paul und holte einen Apfel aus seinem Hemd. »Einen für dich, David – und einen für mich.«
Nur widerwillig nahmen Priscilla und David die Äpfel entgegen. David schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, wir werden deswegen Ärger bekommen.«
»Du machst dir zu viele Gedanken«, sagte Paul achselzuckend. Dann biss er herzhaft in den Apfel. »Hmmm! Die sind gut! Los, komm schon, Priscilla, beiß rein.« Lachend fuhr er fort: »Adam und Eva haben ja auch wegen einer Frucht von einem Baum Ärger gekriegt, aber wir machen uns darum keine Gedanken, nicht?«
Priscilla biss in ihren Apfel, doch David starrte seinen nur an, schüttelte langsam den Kopf und gab ihn Paul zurück. »Ich wünschte, du hättest es nicht getan«, sagte er. »Es wird ganz bestimmt Ärger geben.«
Das Haus, in dem der Prediger Andrew Wakefield mit seiner Frau Dorcas und den Zwillingen David und Paul wohnte, sah aus wie die meisten bescheidenen Häuser im ländlichen Cornwall des Jahres 1753. Es war aus den Steinen gebaut, die man in dieser Gegend fand, und sein spitzes Dach war mit Stroh gedeckt. Zwei kleine Fenster in der Mitte ließen etwas Licht hinein, genau wie das einzige Fenster im ersten Stock. An einer Seite befand sich ein massiver Steinkamin, der beinahe zu groß für das bescheidene Häuschen wirkte. Die Südseite war von Weinranken überwuchert und eine riesige Eibe gab ausreichend Schatten; sie wurde von den Jungen als Kletterbaum benutzt.
Das Innere des Häuschens war bescheiden eingerichtet: In dem großen Raum links wurde gekocht und gegessen, rechts daneben befand sich ein Wohnzimmer und ein kleines Arbeitszimmer. Im hinteren Teil waren noch zwei Schlafzimmer untergebracht und eine schmale Treppe führte zu dem oberen Schlafzimmer. Die Küche, in der zwei Frauen und zwei Kinder saßen, hatte eine niedrige Decke und wurde von einer großen, mit Steinen eingesäumten Feuerstelle beherrscht. Jeder Zentimeter war mit Kupferkesseln, Töpfen und Gerätschaften aller Art vollgestopft. Neben der Feuerstelle stand ein von Messingringen zusammengehaltenes Butterfass, dem man den häufigen Gebrauch ansah. An der Decke hingen getrocknete Apfelstreifen, Pfefferschoten und Kürbisstreifen. Die Wände waren weiß getüncht und neben dem großen Fenster auf der Südseite standen auf einem Regal Eisen- und Kupfergeräte.
Eine der Frauen erhob sich von ihrem Stuhl und ging zu dem schwarzen Topf, der über dem Feuer hing. »Ich glaube, das Stew ist schon fast fertig.« Dorcas Wakefield rührte mit ihrer linken Hand in der Suppe. Ein Unfall in ihrer Kindheit hatte dazu geführt, dass sich die Finger ihrer rechten Hand nach innen krümmten und bis auf den Daumen bewegungslos blieben. Sie war achtunddreißig Jahre alt, und man konnte bei ihr noch die Spuren der schönen Frau erkennen, die sie mit achtzehn gewesen war. Ihre Figur war etwas fülliger, aber ihre Gesichtszüge waren ansprechend: große dunkelblaue Augen und dunkles, fast schwarzes Haar, von nur wenigen grauen Strähnen durchzogen. Dorcas rührte noch einmal in der Suppe, legte den Deckel wieder auf den Topf und kehrte zu ihrem Stuhl zurück. Mit einem Blick auf die beiden Kleinen im hinteren Teil des Zimmers meinte sie: »Ich kann kaum glauben, dass unsere Kinder so schnell groß werden, Sarah.«
Sarah Morgan blickte ihre geliebte Freundin an, die ihre Schwägerin geworden war. Sarah war eine Lancaster, die Tochter von Sir Talbot Lancaster. Als sie ihr bequemes Leben aufgegeben hatte, um Dorcas’ Bruder Gareth Morgan, einen armen Methodistenprediger zu heiraten, waren sowohl Sir Talbot als auch seine Frau Jane entsetzt gewesen. Es hatte mehrere Jahre gebraucht, bis sie sich mit Sarahs Entscheidung abgefunden hatten. Mit ihrem blonden Haar und den blaugrauen Augen war Sarah noch immer eine Schönheit. Wenn sie auch genauso alt war wie Dorcas, wirkte sie sehr viel jünger als die Freundin. »Ja, sie werden groß«, stimmte sie zu und warf einen Blick auf die Kinder. »Ich bin froh, dass sie sich so gut verstehen. Die meisten Jungen machen sich wenig aus ihren kleinen Schwestern, aber Ivor hat sich seit Bethanys Geburt um sie gekümmert. Und sie betet ihn an.«
»Sie sehen Gareth sehr ähnlich, meinst du nicht?«
Es stimmte, sowohl Ivor, acht Jahre, als auch Bethany, drei Jahre, hatten viel von Gareth, ihrem walisischen Vater geerbt. Beide hatten seine pechschwarzen Haare, wenn auch Bethanys lang und Ivors kurz geschnitten waren. Auch hatten sie seine dunkelblauen Augen geerbt, sein fein geschnittenes Gesicht und seine ausgeprägten Wangenknochen sowie seine schlanke Figur. Sarah meinte lächelnd: »Ich nehme an, dunkles Haar und dunkle Augen siegen über blondes Haar und hellblaue Augen, wie ich sie habe. Aber das ist schon in Ordnung. Ich fand ihren Vater sowieso immer hübscher als mich.«
Dorcas Wakefield lachte. »Sag ihm das nur nicht.«
»Dazu ist es zu spät. Das habe ich bereits«, erwiderte Sarah. Obwohl Gareth die Gemeinde in dem kleinen, etwas weiter entfernten Städtchen Deerfield betreute, war die Entfernung doch nicht so groß, dass die beiden Familien sich nicht häufig besuchen konnten. An diesem Tag waren die Morgans bei den Wakefields zu Besuch, denn kein anderer als John Wesley, der große Erweckungsprediger der Methodisten, übernachtete im Haus der Wakefields.
Wenige Meter von den plaudernden Frauen entfernt saßen die drei Prediger in Reverend Andrew Wakefields kleinem Arbeitszimmer. Dieser Raum war so mit Büchern vollgestopft, dass die drei Männer kaum noch Platz fanden. Der kleinste der drei Männer ließ seinen Blick über die überfüllten Bücherregale an den Wänden, über die auf dem Tisch und selbst auf dem Boden aufgestapelten Bücher gleiten. »Du warst schon immer eine Leseratte, Andrew.«
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