Dr. Hormuth begriff: Jetzt ging es erst los. Sein Herz hämmerte. Mit Ungeduld empfing er den ersten Reiter: einen langen Grafen in feuerrotem Parforcefrack und schwarzer Samtkappe, der stürmisch auf einem riesigen Gaul über die Hürden fegte. Es krachte hinterher ein bisschen . . .
Dann ein schnurrbärtiger Stallmeister — ein schöner Mann. Er streifte zweimal mit den Hufen seines Schimmels die Hindernisse und ritt ab.
Der Schwede in der Arena. Eine schnelle, ganz lautlose Angelegenheit. Kein Poltern von Holz in der Totenstille. Keine Strafpunkte. Höfliches Händeklatschen.
„Die Bödiger ist aufgeregt!“ sagte vorn in der Loge sachkundig die eine der beiden jungen Ostelbierinnen. Der kleine, blasse Herr hinten hätte sie für die Bemerkung prügeln mögen. Aber auch der agrarische Papa zuckte umständlich seinen Bleistift zum Notieren.
„Kinder — ich fürchte, jetzt gibt’s Holzauktion! Na ja — da haben wir’s schon . . .“
Lill war losgeritten. Im Hui über die ersten Hindernisse. Hinter ihr prasselte allerhand zu Boden.
„Umwerfen mit den Hinterbeinen: drei Fehler unter Brüdern!“ murmelte die etwas knarrende Stimme vom Lande.
Lill schwenkte ein. Sie kam schräg über die Bahn. Auf eine neue Hürde zu.
„Gut!“
„Bravo!“
„Immer feste! Ganz nett macht sie’s! Ganz nett!“ sprach beifällig der alte Kavallerist und Rennreiter. „Nun kommt sie an uns vorbei! Herrgott: Hintern Hoch! So!“
Lill flog vor Dr. Hormuths starren, dunklen Augen über die Hürde. Sie duckte sich, mit hochgezogenen Knieklammern frei im Sattel vornüber wie eine Katze, die Fäuste hart an den Pferdeohren. Ihre Miene war wild und entschlossen. Nur noch zwei Sprünge. Das erste schwache Beifallklatschen. Eine jähe Bewegung . . .
„Herrgott — das Luder von Gaul bricht aus . . . Hände ’ran . . .“ Der Ostelbier hob sich halb vom Stuhl.
„Sie schmeisst ihn noch ’rüber, Papa!“
„Nein! Er refüsiert! . . . Um Gottes willen . . . Sie fällt . . .“
„Plumps — da haben wir’s . . . Solo über den Hals weg übers Hindernis!“
Ein Gepolter. Stimmengewirr. Vereinzelte Rufe.
,,Da sitzt das arme Kind auf dem Sand! Macht fünf Fehler.“
,,Ach wie schade . . .“
„Aber sie hält die Zügel . . .“
„Sie helfen ihr auf! . . Respekt! . . . Sie krabbelt weiss Gott wieder auf ihre Ziege! Nu aber feste!“
Eine atemlose Stille. Ein Brausen der Enttäuschung.
„Diesmal ist der ,Zappelphilipp’ hoffnungslos mit ihr abgeschrammt!“
„Im Bogen über die halbe Bahn!“
„Zweimaliges Verweigern hintereinander vor demselben Hindernis schliesst aus! . . Nichts mehr zu machen! Schluss!“
,,Da reitet sie ja auch schon geknickt im Schritt aus der Bahn.“
„Ach Gott — sie blutet ja! Sieh mal, Papa: Ihr Stehkragen hinten ist ganz rot!“
Lill war am Ausgang. Sie klatschte, ohne den Kopf nach rückwärts zu wenden, dem „Zappelphilipp“ ein paar erbitterte Hiebe mit der Reitpeitsche über den rechten Hinterschenkel und bog um die Ecke.
„Wütend ist sie . . .“, sagte das eine Fräulein vom Land in der Loge. Und ihr Vater:
„Pech! . . . Und so nett — die Mariell, in ihren Höschen . .“
„Leopold . . .“, mahnte die Mutter matt. Die andere Tochter lachte.
„Ich glaub’, die Lill hat einen stillen Verehrer hier in der Loge sitzen gehabt . .“
„Hörst Du’s, Leopold? Deine eigenen Kinder . . .“
„Nein. Ich mein’ nicht den Papa, sondern den kleinen, verwachsenen Herrn hinter uns! Gleich nach der Katastrophe ist er verstört aufgesprungen und nach hinten gerannt . . .“
Am Eingang zu den Ställen und Kabinen wehrte ein Mann mit einer Armbinde dem Dr. Hormuth.
„Hier ist kein Einlass für das Publikum, mein Herr!“
„Aber ich bin doch Arzt! Die Dame hat sich doch bei dem Sturz verletzt.“ Der Jrrenkliniker drängte sich hastig an dem Beamten vorbei. Er kam in den Vorraum, in dem die Turnierreiter auf ihr Klingelzeichen warteten. Er geriet mitten unter die Pferde. Die Tiere hatten zum Teil Lampenfieber. Ein Gaul stieg unter einem ReichswehrWachtmeister kerzengerade in die Luft. Ein anderer keilte nach hinten aus, dass die Brocken flogen. Ludwig Hormuth rettete sich durch einen Seitensprung und streifte das Bein eines Herrn, der sich mit seinem wild wiehernden Fuchs im Kreise drehte. Der Herr bat freundlich:
„Machen Sie mir den Hengst nicht ganz verrückt! Das Biest hat schon gerade an den Stuten genug . . .“
„Gehen Sie lieber weiter, wenn Sie mit Pferden nicht vertraut sind!“ riet, aus dem Sattel herab, ein anderer Herr auf einem schweissnassen, von Schaumflocken weiss gefleckten Rappen. „Sie kriegen sonst womöglich noch was ab!“
Ludwig Hormuth stand jetzt in einer Art von breitem Stallgang. Hier ging es ruhiger zu. Es sah aus wie hinter den Kulissen eines Zirkus während einer Galapantomime. Oder wie auf einer Parade Friedrichs des Grossen. Offiziere, bezopft, mit Dreispitz, in den Uniformen des Siebenjährigen Krieges, zwischen ihnen, auch hoch zu Ross, ebensoviel gepuderte Damen in blauen Armeefräcken über schwarzen Reitröcken, mit zitronengelben und karmoisinroten Aufschlägen und goldenen und silbernen Borten. Ein wilder, schwarzbärtiger Zietenhusar mit hoher Bärenmütze, in scharlachrotem Dolman, ein Gewimmel von Schlangenköpfen auf Zaum- und Sattelzeug, beugte sich von seiner Tigerdecke nieder:
„Ach bitte — dieser Platz ist zur Versammlung der Quadrille nachher reserviert.“
Der Arzt hatte auch das hinter sich. Vor ihm waren jetzt nur vereinzelte ledige Pferde, Stall-Leute, Gruppen von Herren und Damen — die meisten im Reitanzug. Da stand auch Lill unter ihren Freunden . . .
Ihr schwarzer Herrendress war über und über bestaubt. Die schwarze Melone hatte eine tiefe Delle. Die schwarze Binde sass schief. Der weisse Stehkragen war zerknittert und an einer Seite blutbefleckt. Sie bemühte sich, kühl und gleichgültig auszusehen und sogar zu lachen. Aber ihr hübsches Gesicht war doch noch sehr blass. Unter dem linken Ohrläppchen klebte ihr, mit einem dünnen Heftpflasterstreifen befestigt, ein kleiner Wattebausch.
Erst erkannte sie den Arzt nicht, der auf sie zutrat, und schaute ihn erstaunt aus ihren graublauen Augen an. Dann kam in die ein feindseliger Ausdruck.
„Gott — Sie sind das . . .“, sagte sie. „Ja — jetzt begreif’ ich alles . . .“
„Haben Sie sich etwas getan, gnädiges Fräulein? Ich wollte mich auf alle Fälle zur Verfügung stellen. Ich bin Arzt . .“
„Denken Sie denn, wir hätten hier keinen?“ frug ein hagerer, glattrasierter Herr in weiten Breeches, der wie ein Jockei aussah. „Der kleine Riss am Ohr ist schon bepflastert, wie Sie sehen! Danke sehr!“
„Was geht denn das Dich an, Fips?“ Lill stampfte mit dem Fuss, dass das Sporenrädchen klirrte. Dr. Hormuth merkte: Sie war in einer schrecklichen Laune. Gereizt und nervös, bis in die Fingerspitzen . . . .
„Natürlich — wenn Sie da sind . . .“, sagte sie und wandte sich zu dem andern. „Nun weiss ich wenigstens, marum ich so niederträchtig abgeschnitten hab’ . . .“
„Aber, gnädiges Fräulein . . .“
„Ja. Sie! Immer, wenn ich in letzter Zeit was verschustere, dann stehen Sie da und geistern mich an! Neulich, beim Tennis-Turnier, wo ich anfangs wie ein Waisenknabe gespielt hab’ . .“
„Fräulein Bödiger . . .“
„Ach — lassen Sie mich in Ruhe . . . Vorhin, wie ich hierherfahren wollte, da redeten Sie auf einmal durch das Radio und machten mies . . .“
„Ich kann doch nicht wissen, dass Sie . . .“
„. . . und jetzt, wo ich mich glücklich vor ganz Europa blamiert hab’, da waren Sie wieder der Huckebein! . . . Das ist ja grässlich mit Ihnen! . . Was hab’ ich Ihnen denn getan? Warum verfolgen Sie mich denn?“
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