Rudolf Stratz - Grischa der Geiger

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Während der Revolution in Russland wurde der Wolkenkratzer des Millionärs Grigorieff beschlagnahmt. Viele Menschen leben jetzt in den völlig heruntergekommenen Räumen. Manchen Zimmern merkt man den herrschaftlichen Charakter des Hauses noch an. Im einstigen Luxusboudoir wohnt mit drei armseligen Kumpanen der Geiger Grischa. Keiner weiß, dass er der Sohn des ehemaligen Besitzers ist – außer seinen Zimmerkollegen. Ihnen hat er verraten, dass sein Vater vor seinem Selbstmord in einem Geheimversteck im Haus seine legendäre Kunstsammlung untergebracht hat. Grischa ist aus dem Pariser Exil nach Moskau zurückgekehrt. Als Ärmster der Armen getarnt, wartet er im Haus seines Vaters auf eine günstige Gelegenheit. In allernächster Zeit wird der Sowjetkommissar Litzband sterben. Wenn ganz Moskau seinem Leichenzug folgt, will Grischa zusammen mit den anderen sein Erbe holen. Eines Tages wird er als Geigenspieler von einem dubiosen Russen für ein Geschäftsessen zu einem Amerikaner, Mr. Roop, verpflichtet. Aber noch während des Abends stirbt Litzband. Als Grischa zu Hause das Versteck öffnet, stellen sich die Zimmergenossen als Spitzel heraus und er muss sofort fliehen. Mit Hilfe der Sekretärin des Amerikaners schafft er es, nach Paris zu kommen. Dort erfährt er, dass ausgerechnet Mr. Roop das Prunkstück der Sammlung, die Krone Alexander Newskis, in den Händen hält …-

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Rudolf Stratz

Grischa der Geiger

Saga

Grischa der Geiger

Copyright © 1936, 2019 Rudolf Stratz und SAGA Egmont

All rights reserved

ISBN: 9788711507391

1. Ebook-Auflage, 2019

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

Still: Grischa geigt . . .

Es gibt tausend Töne in dem längst von der roten Kreml-Regierung beschlagnahmten Wolkenkratzer des einstigen altrussischen Millionärs Grigorieff. Noch ragt der schmale, hohe Steinkoloss des alten Teehändlers hoch über die zahllosen Kirchenkuppeln und Klostertürme und Dächermeere Moskaus. Aber drinnen hausen zu Hunderten, froh von Sowjets Gnaden ein Plätzchen gefunden zu haben, grau durcheinander, die Menschen von 1924, die Masse Mensch der neuen russischen Zeit. In allen Stockwerken schreien die Kinder, an der Riesenherden klappern sechs, acht Beamtenfrauen und Fabrikarbeiterinnen und alte Gräfinnen zugleich mit den Kasserollen, ununterbrochen schrillen die Flurklingeln, die Treppent dröhnen von stampfenden Schmierstiefeln. Denn der Lift ist seit Jahren als Abfallschacht für den Abhub der Haushalte verwendet und bis zur halben Höhe des einstigen Palastes mit Asche und Porzellanscherben, Klaviertrümmern, zerbrochenen Marmorbadewannen, zerschlagenen Spiegeln, verfaulten Gemüsestrunken, verwesten Katzen gefüllt.

Aber wenn Grischa seine Geige nimmt und spielt, dann klingen und schwingen die schluchzenden, zitternden Töne durch all den Alltagslärm. Alle Zimmertüren im langen, linken Flur des dritten Stockwerks öffnen sich. Bärtige Männerköpfe, blasse Frauengesichter lauschen.

Auch die Türe zu Grischas Gelass haben sie aufgemacht, um ihn zu hören. Es ist ein einstiges Luxusboudoir im Stil Ludwigs des Vierzehnten, das Grischa, der Ärmste der Armen, mit drei Schicksalsgenossen teilt. Noch hängen Reste der Seidentapete an den grob weiss getünchten, mit Wanzenblut rotgetupften Wänden. Die Deckenkassetten aus Rosenholz sind längst verfeuert, die Parkettäfelung herausgerissen. Ein zertrampelter, mit Hunderten von Brandlöchern der Zigarettenstummel übersäter kostbarer altpersischer Teppich aus der berühmten Kunstsammlung des alten Grigorieff deckt die Sandschicht des Fehlbodens.

Zwei breite Kalkstriche mit dem Tüncherpinsel auf dem Teppich, eine Wandecke — diese Fläche von drei Ellen im Geviert — ist, innerhalb des ganzen Zimmers, Grischas Reich. Sein eisernes Feldbett lehut, für den Tag zusammengeklappt, an der Mauer. Auf den Resten eines Barocksessels daneben sitzt er, die Geige an der Schulter — mittelgross, in der ersten Hälfte der Dreissig, mit weichem, kurzem, blondem Volbart und langen, wirren, blonden Haarsträhnen.

Echt russisch der Schnitt seines schwermütigen Gesichts — die etwas vorspringenden Backenknochen, die breiten Nasenflügel. Träumerisch die blauen Augen. Kindlich-freundlich die Wölbung der stark aufgeworfenen Lippen.

Abgeschabt, an der linken Schulter von der Geige abgewetzt, sein europäischer Rock. Ausgefranzt die langen Hosen über den mit Rüstern vollgeflickten Schaftstiefeln, kragenlos das am Brustsaum rotgestickte Hemd.

Und Grischa geigt . . . Seine etwas groben Züge haben sich verklärt. Sein Blick verliert sich ins Weite. Er träumt mit offenen Augen und spricht wie im Traum.

Spricht leise, mit dem Geigenspiel seine Worte übertönend zu dem ehemaligen Psalmensänger Jermolai, seinem Kreidestrich-Nachbarn im Zimmer, der dicht neben ihm kauert, dürr wie ein Skelett, eine fahlgraue, läusebedeckte Wildnis sein Haar und Hängebart, unheimlich gross die Nase zwischen den eingefallenen, rotgefleckten Wangen des Schwindsüchtigen.

„Heute nacht, Jermolai, wagen wir den grossen Schlag!“ raunt Grischa im Geigen. „Wenn ihr drei hier im Zimmer, denen ich Vertrauen geschenkt habe, euer Leben aufs Spiel setzt und mir helft!“

„Wie sollten wir nicht?“ Ein Hustenanfall erstickt die halberloschene Stimme des kranken Kirchensängers. Er speit auf den Teppich. Er röchelt. „Seit Jahren spricht Moskau von den hier im Hause verborgenen Schätzen. Uns armen Knechten Gottes fallen sie zu!“

„ . . . und diese eine Nacht kehrt nie wieder!“ Grischa der Geiger führt stürmisch den Bogen über die Saiten. „Ich will dir jetzt verraten, warum es heute geschehen muss oder nie! Drüben um die Strassenecke, auf dem Arbât, liegt Litzband, der grosse Sowjetkommissar, im Sterben. Gleich nach seinem Tode wird seine Leiche nachts bei Fackelschein in feierlichem Zug in den Kreml geleitet werden. Alles wird aus diesem Hause hier hinaus nach der Strassenecke laufen, um das Schauspiel zu sehen. Diese einzige Nacht im Jahr ist das Haus meines Vaters hier auf kurze Zeit von seinen Hunderten von Bewohnern leer. In dieser einzigen Nacht kann ich mein Eigentum, die hier im Hause vermauerten Kunstschätze meines Vaters, heben und ins Ausland retten. Seine Sammlung altrussischer Kleinodien war einst weltberühmt, Jermolai! Sie ist Millionen wert!“

„Wir alle werden reich, die es wagen und mit dir gehen!“ keucht der Kirchensänger und wirft über die Schulter einen schnellen, bedeutungsvollen Blick nach dem Flur. Dort wuchtet eben mit schweren Schritten, wie zufällig, in seinem roten Hemd der riesige Hausverwalter Ossip, der Einäugige, genannt „der Gottlose“ vorbei.

„Allein kann ich es nicht vollbringen . . .“ Grischa geigt. „Darum habe ich euch Mitbrüder hier im Zimmer in meinen Plan eingeweiht. Ihr seid die Mühseligen. Ihr habt nichts zu verlieren und alles zu gewinnen!“

„So ist es, Herr!“ murmelt der Psalmensänger Jermolai.

Über Grischas Haupt hängt an der Wand ein Kalender. Er zeigt den 13. März 1924. Der blonde Geiger wirft einen Blick hinauf und spielt.

„Ich bin längst kein Herr mehr!“ sagt er dabei, „ich bin ein Bettler wie ihr — ich, der Sohn des Millionärs Grigorieff, den ganz Russland kannte. Seit sieben Jahren esse ich das Brot der Fremde und ernähre mich kärglich in Deutschland und Frankreich als armer Musikant. Und doch bin ich kein Bettler, sondern reich. Denn mein sind die Schätze hier im Haus, nach denen der Kreml seit Jahren vergeblich sucht, um sie zu beschlagnahmen. Ihr hier im Zimmer, ohne die ich nichts machen kann, ihr allein, Jermolai, wisst, wer ich bin und warum ich mit einem falschen Pass nach Russland kam . . .“

„Wir schweigen, Herr!“

„Hütet nur jetzt eure Zunge, vor der letzten entscheidenden Nacht! Denkt daran, dass ihr innerhalb vierundzwanzig Stunden mit mir erschossen werdet, wenn sie am Lubjanka-Platz merken, dass ich der Sohn Grigorieffs bin und ihr es wusstet, ohne es zu melden!“

„Gott schütze jeden vor der Geheimpolizei, Herr!“ Ein Krampfanfall von Husten schüttelt das lebende Gerippe des Psalmensängers. Er keucht zwischen den Anfällen: „Gott hat mich gestraft.“ Er erhebt sich. „Ich muss frische Luft schöpfen, Herr — verzeiht!“ ächzt er und wankt zur Türe hinans und auf den Flur und in das Treppenhaus.

Dort steht auf dem Stiegenabsatz Ossip der Gottlose, in rotem Hemd und Ledergürtel und hohen Stiefeln, brutal das Antlitz mit dem dunklen Schnurrbart, und spuckt zerbissene Sonnenblumenkerne auf die Schmutzkruste der Stufen. Der Riese richtet sein einziges, tückisches, kleines Auge gespannt auf den Kirchensänger.

„Wir haben ihn!“ keucht Jermolai und fasst den andern in der Aufregung am roten Ärmel. „Heute nacht will er die Schätze heben! Sie müssen hier im Haus verborgen sein, wo wir sie seit Jahren vergeblich suchen. Von der Dachplattform bis zu den Kellern haben wir alles durchstöbert, alle Wände beklopft, alle Räume ausgemessen. Umsonst! Nun wird er uns selber an das Versteck führen, der Narr! Ich fahre gleich nach dem Lubjanka-Platz und melde es der Geheimpolizei!“

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