Wegen dieses Matches war sie eigentlich gekommen. Das Spiel holte sie sicher. Das merkte sie bald. Sie brauchte sich gar nicht viel Mühe zu geben. Sie hatte dazwischen noch ein paar Mal Zeit, nach den Zuschauerbänken zu sehen.
Und musste lachen. Da war zwischen dem Gewimmel von Topfhüten und bunten Sonnenschirmen ein ganz unwahrscheinlicher, breitkrämpiger, schwarzer Schlapphut, und darunter ein kränkliches, feines Gesicht mit kleinem, schwarzem Schnurrbart. Der kleine, blasse, verwachsene Dr. Hormuth war immer noch da und schaute zu und liess Lill nicht aus seinen tiefen, sonderbaren, dunklen Augen.
Er hatte keine Ahnung, warum die beiden Damen so verzweifelt hinter dem kleinen grauen Kinderball her waren — warum der Schiedsrichter zuweilen „Aus!“ und „Set!“ rief, warum Lill und das feindliche Tennismädchen abwechselnd auf der rechten und auf der linken Seite ihrer Platzhälfte zum Gefecht aufmarschierten. Er sah nur Lill beim Spiel — beim freien Spiel. Jetzt, wo sie nicht wie vorhin als Partnerin am Netz klebte, gehörte ihr die volle Fläche bis ganz nach hinten. Sie tobte sich darin aus wie ein Füllen auf der Weide. Sie hatte wirklich etwas von einem Füllen — in den stürmischen Sätzen der flinken, langen Beine, dem hastigen Hüpfen der langen, weissen Schuhe über die rätselhaften, weissen Striche am Boden.
Der Seelenarzt beobachtete dies Körperspiel wie ein neues Problem der Wissenschaft. Er nahm es in stiller Andacht in sich auf: diesen selbstvergessenen, atemlosen Wirbel leiblichen Willens, bei dem diese junge Lill offenbar gar nicht mehr an die Zuschauer und an ihre Wirkung auf diese Männer und Frauen, sondern nur noch, wie in der Steinzeit, daran dachte, wer im Kampf die Stärkere sei — sie oder das ebenso wild herumflatternde andere Fräulein drüben . . .
Immer mehr verlor sich das Auge des Jrrenarztes in das Bild dieses schönen, gesunden, jungen Körpers — dieses von der Aufregung geröteten, hübschen, leidenschaftlichen Gesichts mit der weissen Stirnbinde um die zerzausten, blonden Bubiwellen. Diese langen Katzensprünge der grauen Maus des Balls entgegen, dies lauernde Ducken — dies Rennen wie ein Windhund . . . Der kleine Mann mit der hohen Schulter sah und sann: Merkwürdig, wieviel Freude der Mensch am eigenen Körper haben konnte . . .
„Die Bödiger macht’s, wie sie will!“ hörte er neben sich eine Damenstimme. Und eine zweite: „Aber die andere lässt sie wenigstens tüchtig laufen!“ Nun — natürlich lief die Lill. Hauptsächlich fegte sie ganz rückwärts, hinter dem letzten weissen Bodenstrich hin und her . . . Dann stand sie wieder weiter vorn, den dünnen Arm ohne die geringste Knickung im Ellbogen wagerecht seitlings langgestreckt. Sie trieb den Ball. Dr. Hormuth ertappte sich darauf, wie er selbst in jäher Spannung, gleich der anderen umher, dessen Flug folgte. Der Ball kam zurück. Der Irrenarzt sah wieder auf Lill. Auf das rastlose Spiel ihrer aufgeregt glänzenden Augen in die Luft hinaus — auf den wilden Gesichtsausdruck mit dem halb offenen Mund — ein leidenschaftlicher Satz in die Höhe . . . Es war ein träumerisches, selbstvergessenes Wohlgefallen, dem allem zuzuschauen . . .
Männerstimmen . . Einige Herren von hinten. Ein hagerer Tennisspieler, glattrasiert, mit blossem Stoppelkopf, in zitrongelbem Mantel, schob sich zwischen die Sitzreihen und stand da, unbekümmert, dass er anderen die Aussicht versperrte. Es wagte auch niemand, etwas zu sagen. Das war Herr von Orff. Der Crack gähnte breitbeinig, ein in die Provinz verirrter weltstädtischer Halbgott, und blinzelte gelangweilt auf den Tennisplatz, als sei das ein Kindergarten.
„Was wird denn da wieder zusammengestöpselt . . . Nettes Tempo . . . Die feiern wohl Grosspapas Geburtstag . . .“, sagte er. „Wer ist denn eigentlich das lange, blonde Mädchen, das da herumkraucht?“
„Ein Fräulein Bödiger!“ sagte einer aus seinem Gefolge. „Geht auf den Namen Lill.“
„Weiss ich! Aber sonst? Vater bei Kasse? Fabrik-Konzern? Villa im Grunewald? . . Gott . . Eigentlich ein niedliches Tierchen! Können kann sie ja nischt . . .“
„Im Hauptberuf Turnier-Reiterin!“
„So Kinder sollt’ man auch nicht auf Pferde setzen!“ sagte Herr von Orff und zündete sich eine kurze Pfeife an. Der kleine Herr im Schlapphut vor ihm stand heftig auf, mit einem Stich im Herzen, dass man ihn so kaltschnäuzig aus seinem Traumgesicht riss. Er drängte sich, im Gegensatz zu seiner sonstigen leisen und milden Art, unsanft an seinem Hintermann vorbei. Er und Robby Orff schauten sich eine Sekunde in die Augen, der Krüppel mit einem feindseligen, der Athlet mit einem Ausdruck der Befremdung, dass jemand ihm zu nahe kam. Dann merkte er, dass der andere verwachsen war. Er lächelte plötzlich angelsächsisch, sonnig, förmlich um Entschuldigung bittend, und gab ritterlich, wie früher gegen eine Dame, den Weg frei. Der Gelehrte trat an dem Sportsmann vorbei auf den Rasen hinaus. Er schaute noch einmal nach dem Tennisplatz zurück. Lill stand da, bückte den schlanken Oberkörper, wippte den Ball mit der Schlägerfläche vom Boden und fing ihn mit der Hohlhand. Sie schwatzte dabei und schüttelte sich vor Lachen, mit heissen Backen und zerflattertem Haar. Sie war offenbar schon nahe an ihrem zweiten heutigen Sieg. Die Herbstsonne schien hell auf ihr weissflimmerndes, kurzes Kleid.
Das Badestädtchen lag in warmem Mittagsgold. Blau, rot, weiss brannten die Astern im Kurgarten. Farbige Orchideen sprenkelten das Grün der Wiesenflächen. An den Villen in der langen Vorstadtstrasse kletterte feurig rot der wilde Wein. Herbst. Der kleine Herr im Schlapphut, mit der hohen Schulter, ging über das raschelnde Laub am Boden, in einer sonderbaren Stimmung — von Abschiednehmen und Immerwiederkehr der Dinge — als hätte man das alles schon erlebt — oder nichts erlebt . . . Es war ja schon wieder alles vorüber . . .
Da ragte vor ihm das stille, grosse, weisse Haus mit den vergitterten Fenstern, fernab von den Menschen, im einsamen, buntscheckig wie ein Hanswurst gefleckten Park. Seine Welt. Er trat ein. Auch hier Herbstsonne und Herbstfrieden hinter den hohen Mauern. Die meisten von den Seinen bei dem schönen Wetter im Freien, eifrig in dem weiten Gemüsegarten bei der Arbeit. Der Kaiser von China zupfte Unkraut. Der General mit den vielen Orden buddelte Kartoffeln. Der Prinz schaufelte im Schweiss seines Angesichts. Der reichste Mann der Welt pumpte sich Brunnenwasser in die Giesskanne. Selbst Napoleon hatte sich beruhigt und fuhr Mist.
Auf einer Bank sass die gläserne Dame, das Stielglas vor den Augen, und las die Zeitung. Der Jrrenarzt setzte sich neben sie, ohne dass sie sich um ihn kümmerte. Er schaute schweigend in den Garten hinaus. Über dem stand blassblau, hoch der Himmel, mit kleinen weissen Wölkchen . . . .
„Neuer Tobsuchtsanfall auf Nummer II. Eine Subcutane . . .“, berichtete der Assistent, der herangetreten war. „Sonst nichts Neues.“
„Ja — gut . .“, sagte der Dr. Hormuth in Gedanken . ., „das heisst — eigentlich natürlich nicht gut . . . Wie? . . . Das war zu erwarten? . . Nun ja . . . . Wissen Sie: Vorhin sagte mir das Fräulein von gestern: ,Das ist doch alles so furchtbar einfach.’ Aber ich finde das nicht . . .“
„Hat sich die Dame von dem Schrecken erholt?“ Der Assistent lachte.
„Die? Die springt herum und ist kreuzfidel und haut einen Ball über das Netz — immer hin und immer her — Sinn hat das nicht. Aber vielleicht ist das der Sinn des Lebens . . .“
„Herr Doktor: dunkel ist der Rede Sinn . . .“
„Ja. Es ist vieles dunkel. Gerade bei Sonnenschein.“ Der Jrrenarzt stand auf. „Sie glauben nicht, wie glücklich sich die Leute dort alle fühlen, in ihrer unbefangenen Leiblichkeit. Wie heisst’s im Faust: ,Von Körpern strömt’s — die Körper macht es schön’ . . .“
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