Nun mahnte die Normaluhr: Zeit zum Zug. Dr. Hormuth sprang hastig auf, zahlte, winkte draussen einen Taxameter . . . Zögerte . . .
„Wissen Sie eigentlich, wo heute abend der Concours hippique ist?“ frug er den Chauffeur. Der Mann nickte. Wartete. Und steuerte, da der Gast wortlos einstieg, den Wagen durch die Brandung des Potsdamer Platzes zum Westen, in der Richtung zum Pferdeturnier.
Als eine kleine Reitbahn in irgedeinem Tattersall mit einem schütteren Kranz wohlwollender Sachverständiger und Familienangehöriger umher — so ungefähr hatte sich der Arzt aus der Provinz den Tummelplatz eines Concours hippique vorgestellt. Er stand am Eingang einer beinahe unabsehbaren, unwahrscheinlich sich in der Ferne verlierenden kirchenhohen Raumwölbung. Er sah auf ein Meer von Tausenden von Köpfen bis hoch zu der bläulich umwölkten Galerie. Die Riesenhalle schwamm in einer Flut von Licht. Sie war von schmetternder Musik überrauscht, von Stimmengewirr wie vom Summen eines Bienenschwarms durchbraust. Wo kamen alle diese Menschen her — alles gut angezogene Herren und Damen, die ruhig und gesittet, mit gespannten und befriedigten Gesichtern, in ihren Logen und auf ihren Sesselreihen sassen! Was verstanden die Berliner von Gäulen? Aber da war ein jähes Händegeprassel, begeisterte Bravorufe um einen jungen Reichswehr-Offizier, der wie ein grauer Blitz plötzlich auftauchte, in einem Zug über ein Dutzend Hürden oder mehr dahinschoss und ebenso schnell wieder verschwand. Ein Tosen von Beifall hinterher. Eine reine Freude an Mann und Ross und Tat bei all diesen unzähligen Leuten, von denen nur die allerwenigsten je auf einem Pferderücken gesessen haben konnten. Der Jrrenarzt ahnte plötzlich etwas von der weltwerbenden Macht des grünen Rasens, des gelben Sandes, des weissen Schnees, der Matte und des Rings über die neuen Menschen. Er hatte bisher den Sport nur als den Drillmeister für eine Handvoll Fussballkönige, Meisterjockeis, Boxerchampions, Tenniscracks, Autorennhelden betrachtet. Nun sah er ihn als Seelenfänger für hundert- und tausendmal so viel ganz unbeteiligte, im Geist mitlebende Menschen.
Die Halle, in der die Bevölkerung einer deutschen Kleinstadt Platz fand, war so gut wie ausverkauft. Ludwig Hormuth bekam noch eben hinten in einer Loge einen Stuhl. Vor ihm sass ein braungebrannter Herr mit Frau und Töchtern. Agrarier. Er staunte über diese Familie. Sie brachte es fertig, auf den ersten Blick ein Pferd vom anderen zu unterscheiden! Sobald ein neuer Gaul ganz im Hintergrunde erschien, stellten sie, ohne einen Blick in das Programm, einstimmig und halblaut fest, dass es sich um „Geisterkönig“ vom „Minnesänger“ aus der „Maus“ oder um „Rumpelstilzchen“ vom „Taugenichts“ aus der „Sachsenliesel“ handelte. Ludwig Hormuth erfuhr von ihnen, dass man sich mitten in der zweiten Abteilung befand. Er dankte und bemühte sich, ebenso interessiert zuzuschauen wie die andern. Aber er konnte deren Neugier nicht begreifen. Es war ja immer dasselbe: Jrgendein Herr — Reiterinnen schien es vorläufig nicht zu geben — jagte in einer Eile, als würde er verfolgt, über die Hürden. Manchmal warf er sie um. Manchmal nicht. Dann kam der nächste. Zugleich erschienen oben an der Querwand riesige, zu Namen aneinandergereihte Pappbuchstaben und geheimnisvolle Ziffern von Minuten und Sekunden. Und viele Leute schrieben sich das stirnrunzelnd in ihre Programmhefte und rechneten halblaut.
Lill Bödiger sollte erst in der dritten Abteilung kommen. Gott mochte wissen, wann die dran war. Der kleine, blasse Mann in der Loge ertappte sich auf der Frage: Was tust Du denn eigentlich hier? Mit Deiner verwachsenen Schulter? Dir sieht doch jeder an, dass Du kein Sportsmann bist und sein kannst — obwohl das Publikum ringsum viel zu wohlerzogen und höflich ist, um darüber auch nur mit der Wimper zu zucken . . .
Plötzlich stand er auf und schritt hinter den Zuschauerreihen dem Ausgang zu. Er kam an einer Art von Postschaltern vorbei, hinter denen Beamte sassen. Der Totalisator. Man konnte da auf die Springpferde wetten. Er wusste nicht, wie man das anfing. Er ging weiter. Seitlings lehnten einige Männer, mit dicken, umgehängten Ledertaschen, Notizbücher und Tintenstifte in den Händen. Auf einer Schiefertafel dahinter waren mit Kreide Pferdenamen und rätselhafte Zahlen angemalt. Da stand auch „Zappelphilipp“.
Ein junger Herr trat heran und sagte nachlässig zu einem dicken Mann: „Legen Sie mir mal zehn Emmchen auf ,Pharao’!“
Hier war es also ebenfalls möglich, zu setzen. Ludwig Hormuth empfand plötzlich eine unbezwingliche, herzklopfende Lust zu diesem Abenteuer. Er näherte sich dem Buchmacher, der ihn geschäftsmässig frug:
„Was soll es sein, Herr?“
„Ich möchte hundert Mark auf Fräulein Bödiger wetten!“
Die Leute umher lachten. Er wusste nicht, warum. Der Buchmacher frug seinen Gehilfen am Tisch.
„Fräulein Bödiger . . . August: Geht der ,Zappelphilipp’? Ja? Bitte — hier, mein Herr! . . . Danke!“
„Na — Sie kriegen ja schön lange Odds!“ sagte der junge Sportfreund von vorhin. Der kleine Arzt wusste nicht, was das hiess und ob lange Odds eine Schmeichelei für Lill und ihr Pferd bedeuteten. Es schien ihm eigentlich nicht der Fall. Er kehrte auf seinen Platz zurück. Er fühlte sich auf einmal tief befriedigt. Innerlich gehoben. Aus der Vereinsamung erlöst. Mit Lill und dem Treiben umher und der ganzen Menschheit im Saal durch ein gemeinsames Band verflochten. Alles wegen eines Stückchens Papier in der Tasche. Er kannte sich selber nicht mehr. Aber er lächelte still. Er setzte sich erwartungsvoll zurecht.
Denn nun begann die dritte Abteilung. Völlig anders als bisher. Es ritten hintereinander ein Dutzend Reiter und mehr in den Raum. Sie dachten nicht daran, zu springen. Sie lenkten ihre Pferde im Schritt hin und her, durcheinander, wie Kraut und Rüben. Der blasse Kleine Arzt sah Herren in Zivil, ein paar Husaren und Kürassiere in den bunten, schon sagenumwobenen Attilas und Überröcken der alten, grossen deutschen Armee, einen ausländischen Offizier in fremdartiger Uniform — aber eben nur Männer. Er war verstört. Sein Herz stand still. Er hielt es nicht aus. Er beugte sich vor und frug den Ostelbier vor ihm.
„Verzeihen Sie: Sollte jetzt nicht auch eine Dame mitreiten?“
„Ja. Die Bödiger!“ rief eine von den Töchtern vorn.
„Aber sie ist ja nicht da!“
„Die Lill?“ Das junge Mädchen schien sie zu kennen. „Dort drüben hält sie ja! Nun zieht sie weiter!“
Ein schmalschulteriger hübscher junger Herr, die schwarze Melone über dem kühl sachlichen, gesammelten Gesicht, mit hohem Stehkragen und schwarzer Binde, ritt langsam heran. Er trug einen, in langen Schössen beiderseits herabfallenden schwarzen Taillenrock. Die dünnen, geschmeidig dem Pferdeleib angelegten Beine staken in langen, schwarzen Hosen. Die beiden, Herr und Tier, hielten vor jeder Hürde inne und betrachteten sie genau.
„Sehr gut, dass sie ihrem Gaul noch einmal die Hindernisse zeigt!“ brummte der Agrarier. „Der Katze war die Angelegenheit gestern schon zu hoch!“
„Das Tier ist nervös, weil die Bödiger nervös ist! Sie zeigt’s nur nicht!“ sagte das eine junge Mädchen.
Lill war jetzt ganz nahe. Der Irrenarzt sah auf wenige Schritte das jugendliche, ein wenig herbe Profil mit dem halb offenen Mund, die dunkelblonden Haarwellen hinter dem Ohr, die allein, in dem Männeranzug, ihr Geschlecht verrieten, den gertenschlank im Sattel aufgerichteten Oberkörper. Lill blickte nicht herüber. Sie hatte kein Auge für das Publikum. Sie war nur damit beschäftigt, ihrem unruhig die Ohren spitzenden „Zappelphilipp“ Mumm für die grünen Tannengeflechte und losen Stangen der Hindernisse beizubringen. Dann legte sie leise die dünne, linke Wade an das Pferdehaar, verkürzte die linke Faust und sprengte in verhaltenem Galopp dem Ausgang zu. Die Glocke läutete. Die Bahn leerte sich.
Читать дальше