„Metzgergesellen ist gut! Da besieh Dir mal den Herrn von Orff aus der Nähe!“
„Orff? Kenne ich nicht! Wer ist es denn?“
„Gott — ’n Freund von mir!“ Lill knöpfte sich die Stulphandschuhe zu. „Eigentlich kein Freund von mir, sondern ein Bekannter! Das heisst eigentlich kein Bekannter von mir! Ich hab’ nur mit ihm zusammen vor drei Wochen das Gemischt-Doppel gelandet und ihn seitdem nicht wieder gesehen . . . Na also, ich sag’ Dir, ein Greuel von einem Menschen . . .“
„Weswegen interessiert er Dich denn dann?“
„. . . weil er doch morgen als Amateur gegen den kalmückischen Riesen antritt!“ rief Lill in Sporthitze.
,,Darf er denn das?“
„Natürlich nur zu wohltätigem Zweck — seinerseits! Er hat trotzdem die tollsten Scherereien mit seiner Sportbehörde! Aber wenn der Orff was will . . . der Kampf steigt ganz bestimmt. Ganz Berlin ist ja schon in Aufregung!“
„So? Nun — ich hab’ heute in der Stadt Besorgungen gemacht und fand das Strassenbild noch ruhig!“ sagte Frau Bödiger. „Lill — ich bin wirklich nicht so! Aber eine junge Dame der Gesellschaft gehört nicht in einen Boxmatch! Das ist Männersache!“
„Ja. Leider. Der einzige Sport, den wir Frauenzimmer nicht ausüben können!“
„Du bist jetzt zweiundzwanzig, Lill! Du kannst mit solchen Erzentrizitäten mal wirklich Deinen Heiratschancen schaden! Du bist doch schon, könnt’ man sagen, halb und halb verlobt . . .“
„Was bin ich?“ frug Lill schnell und gereizt und zwinkerte drohend mit den Augen.
„Mit dem jungen Heerklotz . . .“
„Das ist mein Freund . . .“
„Oder mit dem jungen Wiebe . . .“
„Das ist erst recht mein Freund!“
„Eben stakst Du eine Stunde im Stall mit dem Dr. Wendroth — einem geschiedenen Mann!“
„Das sind alles meine Freunde! Wir wissen schon selber, wann wir mal heiraten und wen wir heiraten! Das ist ’ne Sache für sich. Das hat mit unserer Kameradschaft draussen gar nichts zu schaffen! Wir wollen nur ein paar Jahre freie Menschen sein und nicht bloss Bähschafe auf dem Heiratsmarkt . . . Wir wollen uns erst mal selber körperlich und geistig finden und entwickeln, um mal ernsthaft zu reden! Für mich ist der Sport dasselbe wie für Dich Dein Salon . . .“
„Mein Gott — hindere ich Dich denn? Das hab’ ich längst aufgegeben! Wir Mütter alle! Es würde ja auch nichts helfen . . .“
„Na eben, Mama!“ sagte Lill versöhnlich. „Nun vertragen wir uns wieder! Sei unbesorgt! Mir tun die bösen Männer nichts. Ich kenn’ sie. Ich weiss genau, was ich zu tun hab’! Ich hab’ mich so fest in der Hand wie meinen Gaul! Und nun ist’s höchste Eisenbahn, dass ich ankurbele und nach Berlin hineinpace! Adieu, Mama!“
Lill drückte mit ihren roten Lippen der Mutter einen sanften Kuss auf die Wange. Es war eine mädchenhaft weiche, beinahe kindliche Bewegung. Sie stieg, in ihrem Männer-Reitanzug, vorsichtig die Treppe hinab, mit seitlings aufgesetzten Stiefeln, um nicht mit den Sporen am Teppich der Stufenkanten hängenzubleiben. Im ersten Stock war Radau um das Telephon. Die ganze Blase — das Baby, die Bine, der Frid, die Mab, der Bruder Geo wiederholte, die Muschel am Ohr, die Meldungen von den heutigen Nachmittagsereignissen im Concours hippique:
„Still doch, Baby — also Materialprüfung. Preis des Landwirtschafts-Ministeriums. Klasse I für Drei- und Vierjährige . . .“
Lill fesselte das nicht. Nur der Sport des Abends — das wilde Jagdspringen, mit Totalisator, Buchmacher, krachenden Hürden, Lärm. Sie liess das Gegacker am Fernsprecher hinter sich. Aber sonderbar — wie sie zum Erdgeschoss hinabstieg, tönte, durch den Spektakel oben, durch die tiefe Stille unten, eine gleichmässig laute, weiche, merkwürdig eindringliche Männerstimme. Die fremde Stimme sprach in einem fort. Niemand unterbrach sie . . .
Ein Geschäftsfreund von Papa? So lange hörte der ja gar nicht zu. Ausserdem kam er immer erst kurz vor Tisch mit achtzig Kilometer aus Berlin angetöfft. Besuch für Mama? Aber die sass ja oben. Also wer schwang denn da eigentlich eine Volksrede und vor wem? Auch noch etwas von Sport — schien es . . . Lill horchte. Die Männerstimme verkündete langsam und deutlich:
„Was war das Schicksal der klassischen Heimat aller Leibesübungen? Was wurde aus Hellas? Nun — dies unerreichte Vorbild körperlicher Harmonie erwies sich — die Perser ausgenommen — als hilflos gegen jeden äusseren Feind. Griechenland seufzte durch mehr als zwei Jahrtausende ununterbrochen unter dem wechselnden Joch der Makedonier, Römer, Byzantiner, Franzosen, Spanier, Venezianer und Türken.“
Wo kam denn das Gequatsche her? Lill schaute sich um. In der Diele war keine Menschenseele. Es fing wieder an.
„Die deutsche Unsterblichkeit liegt in dem Faust von Goethe und nicht in der Faust des Boxers. Muskelrausch, Athletenvergötterung, Kniefall vor dem Körper waren immer Anzeichen dafür, dass eine Zeit ihren kranken Geist aufgab. An seine Stelle tritt dann der gesunde Leib. Aber er ersetzt ihn nicht. Nie wird der Diener den Herrn, der Leib den Geist ersetzen!“
Das Gekolke kam aus dem leeren Tanzsaal nebenan. Lill lief hinein und schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirne. Na natürlich: Wie das Telefon oben bimmelte, war die ganze Gesellschaft vom Tanz weg zu den Sportnachrichten hinaufgestürmt und hatte verschwitzt, das Radio abzustellen. Nun war da inzwischen die Teemusik zu Ende, und es hatte ein Vortrag begonnen.
„Was ist Spanien von seiner Weltherrschaft geblieben? Nur das Stiergefecht als Totenfest!“ tönte es aus dem Lautsprecher. Lill schaute mit krauser Stirn hinein. Diese weiche, sanfte Stimme erschien ihr auf einmal bekannt. Eine Erinnerung kam ihr. Sie trat zum Tisch, blätterte das Wochenprogramm auf. Richtig: Heute — von 18 Uhr ab bis 18 Uhr 25 Minuten Vortrag des Dr. med. Ludwig Hormuth: „Die kranke Zeit.“
„Die Krankheit unserer Zeit heisst Abzehrung im Geist. Wir haben unser geistiges Erbe ausgeschlagen, weil wir nicht mehr an dies Erbe, an die überkommenen Tafeln der Gesetze, glauben. Der neue heilige Geist aber will uns nicht erscheinen. Inzwischen löst sich der Körper von der Kette. Daher die Massenflucht aus der seelischen Sahara in das trügerische Mekka der Muskeln . .“
„. . . ach was . . .“ Lill tippte, den Blick schon nach dem Auto draussen, mit dem Zeigefinger auf den Kopf. Plötzlich war alles still.
Um den Dr. med. Ludwig Hormuth in seiner Zelle, vier Treppen hoch in der Potsdamer Strasse, war überhaupt schon die ganze Zeit hindurch alles still. Er stand und sprach in die geheimnisvolle, faustgrosse, längliche weisse Kapsel vor ihm. Er vernahm nur seine eigenen Worte. Er wusste nicht, hörten Hunderte zu, Tausende, Zehntausende? In Berlin? In Deutschland? In Europa? Es kam kein Widerhall aus der grossen Leere.
Der Jrrenarzt machte eine grosse Pause. Er wandte über die etwas zu hohe rechte Schulter das feine, blasse, kränkliche Gesicht mit dem kleinen schwarzen Schnurrbart zu dem Stoss seiner winzig bekritzelten Manuskriptblätter und nahm das nächste. Er las weiter, den zartgeschnittenen Mund gegen das Mikrophon, die dunklen Augen auf den Zeilen. Von oben überspiegelte das elektrische Lämpchen die hohe, mächtig gewölbte Stirn und den für den dürftigen Körper zu grossen, kahl schimmernden, nur seitlings von schwarzem Kraushaar umkränzten Schädel.
Nun hatte er geendet. Er öffnete die Polstertür seines Verschlags, schritt über die dicken Teppiche des Ganges, an dessen Wänden in grossen Lettern das Wort „Ruhe!“ leuchtete, langte im Künstlerzimmer seinen Mantel aus dem Schrank und fuhr im Lift hinunter in das lichterhelle, abendliche Gewoge Berlins.
Auf der Strasse kaufte er sich eine Abendzeitung und setzte sich damit in ein Kaffeehaus am Potsdamer Platz. Er konnte von da das Zifferblatt der Normaluhr sehen. Sein Gepäck war schon auf dem Bahnhof. Er hatte noch eine Stunde Zeit bis zur Heimfahrt. Er schaute auf den Berliner Betrieb hinaus. Auf dem Verkehrsturm wechselte farbiges Licht. Die Schupos unten müllerten. Die Strassenbahnwagen, Autos, Fuhrwerke schoben sich wie grosse Käfer dahin. Schwarze Ketten von Fussgängern kribbelten schnell, gleich Ameisen auf der Wanderschaft, zwischen ihnen durch. Der kleine, blasse Herr beobachtete es längst nicht mehr. Er hielt die Zeitung vor die Augen. Er las das Programm für den letzten, heutigen Abend des Concours hippique. Ross und Reiter wurden hier in Randbemerkungen gewürdigt. Da stand auch: „Inwieweit ,Zappelphilipp’ unter Fräulein Bödiger, der bisher unerwartet gut abschnitt, in dieser hohen Klasse etwas zu suchen hat, wird ja der Verlauf der Dinge lehren . . .“
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