Im März 1989 schossen weder die Bayern noch mein 1. FCK ein weiteres Tor. Das 1:1, ein Spiel, bei dem wir ausnahmsweise weiße Hosen zu den roten Trikots getragen hatten, konnte man summa summarum als Achtungserfolg werten. Bei meinen Freunden, die selbstverständlich mit einem klaren Bayern-Sieg gerechnet hatten, hielt sich die Enttäuschung ebenfalls in Grenzen, denn die Münchner steuerten souverän der Deutschen Meisterschaft entgegen. Am Ende der Spielzeit sollte es durch einen niveauarme Provokationen proklamierenden Kölner Trainer zwar noch einmal interessant werden, doch auch die hitzigste aller ZDF-Sportstudio-Diskussionen mit Bernd Heller, Uli Hoeneß, Jupp Heynckes, Udo Lattek und Christoph Daum („Jede Schlaftablette ist spannender als ein Gespräch mit Jupp Heynckes“) vermochte die Wende im Titel-Zweikampf nicht mehr herbeizuführen.
Nach dem Spiel war mir endgültig klar, dass der FCK mit mir in seiner Nähe nicht mehr verlieren würde. Mit dieser fast religiöse Dimensionen annehmenden Gewissheit trat ich den Rückweg an und kam gerade rechtzeitig zur Taufe meines Neffen, bei der ich unter einer schwarzen Stoffjacke verborgen mein FCK-Trikot trug. Dass der Täufling es heute mit Borussia Dortmund hält, konnte mein listiger Versuch der unterschwelligen Einflussnahme leider nicht verhindern. Ohne ihm zu nahe treten zu wollen, kann ich meinen Neffen aber auch nicht als Fan bezeichnen. Zumindest nicht als richtigen, denn seine Art der Vereinstreue geht kaum über die eines Sympathisanten heraus und erreicht eindeutig nicht das pathologische Niveau, auf dem ich mich zuweilen bewege. An anderer Stelle sagte ich bereits, dass ich Menschen beneide, deren Gefühle den Fußball betreffend sich im gesunden Rahmen halten, und die Gelassenheit meines Neffen gehört in diesem Zusammenhang ganz sicher zu den hervorzuhebenden Charakterzügen. Ob seine Persönlichkeit dafür in anderen Aspekten Schwächen aufweist, vermag ich weder zu bestätigen noch zu dementieren – glauben will ich es jedenfalls nicht.
Die Intervalle wurden kürzer. Beim nächsten Heimspiel war ich schon wieder da. Diesmal mit meinem Vater und zwei Jungen aus der Nachbarschaft. Es muss der 1. April 1989 gewesen sein, als wir, wohl auch begünstigt durch die peinliche 0:2-Auswärtsniederlage bei den Stuttgarter Kickers, ohne Angst, vor verschlossenen Stadiontoren zu landen, den Weg nach Kaiserslautern antraten. In der Tat sollte das Spiel gegen den FC St. Pauli vor der geringsten Zuschauerzahl stattfinden, die ich bis heute bei einem Erstligaspiel auf dem Betzenberg erlebt habe. Nicht einmal 17.000 Menschen säumten die Ränge. Wir standen in Block 6, was mich angenehm überraschte, da ich von meinem Vater nicht erwartet hätte, dass er sich für die Westkurve hergeben würde. (Wahrscheinlich wollte er mit seiner Platzwahl Rücksicht auf die Geldbörsen seiner jugendlichen Mitfahrer nehmen, aber rein wirtschaftlich betrachtet hätte es dann auch die Osttribüne getan.)
Das Spiel war, wie man in der allgemein gebräuchlichen Reportersprache zu sagen pflegt, richtungsweisend, denn der Abstand zu den Abstiegsrängen war bedrohlich zusammengeschrumpft. Inzwischen war klar, dass Trainer Sepp Stabel in der kommenden Saison für Gerd Roggensack weichen musste, und manch einer befürchtete durch diese frühe Festlegung einen Einbruch.
Für einen der beiden Nachbarsjungen, Morten Pitz, war es der Tag der Stadionpremiere. Ich weiß nicht, ob er sich vorher ernsthaft für Fußball interessiert hatte. Morten war ein eher unsteter Zeitgenosse, ein mäßig sportlicher dünner Hering, der im kommenden Jahr seinen Hauptschulabschluss machen wollte. Im Allgemeinen unternahm ich mit ihm und ein paar anderen Freunden Fahrradtouren, mit Vorliebe durch den in unserer Gegend dicht wachsenden Wald. Oft fuhren wir zu einer einsamen Eisenbahnbrücke, in deren Unterbau wir es uns gefährlich gemütlich machten und erste, heimliche Biere tranken, während die Regionalzüge mit lautem Getöse über unsere Köpfe hinwegdonnerten. Morten war ein Mensch, dessen Begeisterung für eine Idee analog zum Grad ihrer Verrücktheit zunahm. Im Gegensatz zu Jonas Gutmann, der als realitätsbezogener Zauderer immer das Hätte, Wenn und Aber parat hatte – Jonas war Bayern-Fan. Trotzdem ließ er sich einmal nach langem Sträuben von Morten (dem offiziellen Anstifter) und mir (dem unentdeckten Ideengeber) dazu überreden, sich mit uns gemeinsam im Wald aller Kleider zu entledigen und einen guten Kilometer nackt auf dem Fahrrad zurückzulegen. Jonas ängstliche Frage, was wir tun würden, wenn uns jemand entgegenkäme, konterten wir mit der Antwort „freundlich grüßen und weiterfahren“. Wir begeisterten uns für das Absurde, für die Konfrontation der normalen Menschen mit dem Unnormalen. Ohne Zweifel hatte Morten Potenzial für die Westkurve. Sie war in seinen Augen das „etwas Andere“, das ihm in seiner jugendlichen Existenzkrise Orientierung verlieh. Am 1. April 1989 verliebte sich Morten zwar nicht in den Fußball, doch er entdeckte seine Leidenschaft für die Betzenberg-Atmosphäre und verschrieb seine Seele für die nächsten zwei Jahre dem Teufel persönlich: Gerry Ehrmann.
Die eigenartige Stimmung beim St.-Pauli-Spiel habe ich besser und eindrucksvoller in Erinnerung als den Lärm, den die mehr als doppelt so vielen Menschen 14 Tage zuvor gegen die Bayern veranstaltet hatten. Diese Erfahrung war, wie mir mein späteres Fanleben zeigte, nicht ungewöhnlich. Die Frage, ob eine Masse explodierte, hing weniger von deren Größe ab als vielmehr von den äußeren Umständen und der durch diese beeinflussten inneren Verfassung der Anwesenden. St. Pauli galt als frecher Aufsteiger, war das „Freudenhaus der Liga“, und die 17.000 Lauterer wollten zeigen, dass der Betzenberg so etwas Ähnliches war. Oder besser: dass er etwas Höherwertigeres, Dauerhafteres war und dass der Betzenberg-Besucher ältere Rechte am hohen Gut „Bundesliga-Fußball“ geltend machen konnte als der in dieser Hinsicht unbedarfte Gast von der Reeperbahn. Ich glaube nicht, dass es damals einen FCK-Fan gab, der St. Pauli nicht mochte, doch es gab erst recht keinen, der noch einmal Lust auf Abstiegskampf hatte. Das Spiel musste gewonnen werden – basta. Entsprechend wurde Kampf gefordert. Schön hatten wir von Block 6 aus das dichtstehende Stimmungszentrum im Blick, wo Arme sich synchron erhoben und harten Rufen den Takt vorgaben. Die Mannschaft tat sich trotz Überlegenheit schwer, und ein Pfeifkonzert zur Halbzeit war die Folge. (Ich hatte den Eindruck, dass die Pfiffe eine Art Routine darstellten und eher den Spielstand kritisierten als das erkennbare Bemühen der Mannschaft.)
Im zweiten Durchgang wurde auf die Westtribüne zugespielt. Es kam zu ein paar Chancen, aber nicht zu Toren, so dass man zehn Minuten vor Spielende ein quälendes 0:0 befürchten musste. Die Begeisterung für den neuen Stürmer Bruno Labbadia hatte sich nach nunmehr sechs oder sieben Spielen ohne Torerfolg deutlich gelegt und war missmutigen Zuschauerkommentaren gewichen: „Der ist steif wie ein Brett!“, „Der steht immer mit dem Rücken zum Tor, wie will er da treffen?“, „Wenn ich sehe, wie der Labbadia sich dreht, krieg ich die Krise.“ Zehn Minuten vor Ende stand dieser Labbadia frei im Strafraum und wurde gefoult. (Oder trügt meine Erinnerung, und es war in Wirklichkeit Sergio Allievi? Fakt ist: Minuten vor Spielende wurde bei ausgeglichenem Spielstand in chancenarmem Spiel direkt vor den Augen der FCK-Fans ein Lauterer Spieler im Strafraum umgesäbelt. Zweifelsfrei und für jedermann zu erkennen.) Und der Schiedsrichter? Versagte den Elfmeter! Zum ersten Mal in meinem kurzen Stadionleben sah ich die Westtribüne außer Rand und Band! Es wurde nicht gepfiffen, es wurde ohrenbetäubend gepfiffen! „Schieber!-Schieber!“-Rufe brandeten auf und wurden durchmengt von düsteren Gesängen über die „Schwarze Sau“. (Ein Grund eventuell dafür, dass die Schiedsrichterkleidung irgendwann auf grün, gelb und rot erweitert wurde, denn „Grüne Sau“ kam emotional aufgeladenen Menschen seltener in den Sinn.) Spieler hoben lamentierend die Arme, doch der Gegenzug des FC St. Pauli lief ungebremst Richtung Lauterer Tor. Und nun gab der Schiedsrichter Elfmeter! (Aus Angst, als „Heimschiedsrichter“ zu gelten, scheuten es viele Unparteiische, in unklaren Situationen Entscheidungen für Kaiserslautern zu treffen. Aber innerhalb einer Minute zweimal krass gegen die Roten Teufel zu pfeifen, das hatte schon etwas Verwegenes …)
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