Der Sprung vom Empire State Building hat sie für immer unsterblich gemacht. Sie ist gesprungen, um vergessen zu werden. Ihr letztes Porträt erzählt nur von ihrem Kampf, ihrer Erleichterung darüber, dass nun nicht mehr die Sehnsucht, dazuzugehören, an ihr nagte. Sie wirkt, als hätte sie einen langen Spaziergang in einem Dschungel aus Heu gemacht und beschlossen, sich im Gras auszuruhen, als hätte sie ihre High Heels abgestreift und würde mit geschlossenen Augen die Sonne genießen, das Kinn mit einem Gänseblümchen streicheln, das sie unterwegs gepflückt hat. Nur dass das Gras ein Bett aus Metall, der Körper tot und das Gänseblümchen eine scharfe Glasscherbe ist .
Wann habe ich beschlossen wegzulaufen? Ich kann mich wirklich nicht mehr erinnern. Es kam so unerwartet wie der Frühlingseinbruch nach einem langen Winter. Der Gedanke wurde immer stärker wie die Sonne im April, durchbrach die Stürme deines Geschreis. Durchdrang den dunklen Nebel meiner Verlassenheit und Isolation.
Jenen letzten Moment, als es dann so weit war, werde ich niemals vergessen. Du sagtest, dass du spazieren gehst. Du machst jeden Tag einen langen Spaziergang und verschwindest stundenlang. Keiner weiß, wo du bist, und es scheint auch keinen zu interessieren.
Du legst dein Make-up auf, knallgrünen Lidschatten, etwas Rot auf die Lippen, und bindest dir dein weißes Kopftuch um, bevor du Stufe um Stufe die Treppe hinuntergehst, deine klappernden High Heels erzeugen einen hypnotischen Rhythmus. Sobald das Klappern verklungen ist, stürze ich auf den Balkon; ich sehe dich auf der Straße, mit deiner berühmten blauen Jacke, deinen Lieblingsstrümpfen, deiner weißen Handtasche. Mir liegt der Geruch meiner verbrannten Erinnerungen in der Nase, in der Tonne ruht noch ihre Asche. Du gehst mit gleichmäßigen Schritten die Straße entlang, bis du nicht mehr zu sehen bist. Meine Sonne scheint. Ich gehe.
Meine Bücher sind entbehrlich. Ich behalte nur mein Lieblingsbuch. Kleidung besitze ich nicht viel; ich nehme nur die mit, die nicht mit Blut oder Erinnerungen besudelt ist. Die Tasche, die einmal meine Schultasche war, füllt sich rasch mit meinen Sachen. In meiner Hosentasche ist Geld. Meine Schuhe warten an der Tür auf mich.
Ich werfe einen letzten Blick auf mein Zimmer, das schmale Bett, die blaue Matratze, die hölzernen Fenstergitter, meine Bücherregale, die zum Teil kaputt sind. Das kleine weiße Sofa und den kleinen Kamin. Ich verabschiede mich davon, ich werde das alles nie wiedersehen.
Nachdem ich die Haustür hinter mir geschlossen habe, erlaube ich mir einen Abschiedsscherz, ich drehe den Schlüssel im Schloss herum und breche ihn ab. Ich lächle boshaft.
Zehn Jahre sind vergangen, seitdem ich dich zuletzt gesehen habe, Mutter. Ich habe dich auf Schritt und Tritt gemieden; meine Flucht scheint niemals zu enden. Wie kann man seiner eigenen DNA entkommen? Wie kann man zurückblicken, sich denken: Scheiß drauf, und weitermachen?
Auf der obersten von drei Stufen, die zu einem kleinen Restaurant in Damaskus führen, sah ich dich an einem Vorfrühlingstag Ende der Zweitausenderjahre wieder. Ich fragte mich, ob du zu mir herunterkommen würdest oder ob ich zu dir hinaufgehen sollte. Mit den hellwachen Sinnen einer Straßenkatze scannte ich unwillkürlich meine Umgebung nach einem möglichen Fluchtweg.
Als du mich umarmtest, erschauderte ich. Du stelltest mir Fragen über mich, über meine Reisen um die Welt. Du lächeltest, lachtest, wirktest ruhig und ausgeglichen. Mir war klaustrophobisch zumute, und ich hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Du klagtest über deine Einsamkeit. Ganz allein würdest du in deinem alten Haus sitzen, nachdem du alle um dich herum vertrieben hattest. Müsstest dich ohne Hilfe in einem Krieg durchschlagen, den du nicht verstehst. Ich weiß nicht, was mich mehr ärgerte: dass du zu denken schienst, du seist immer noch mein Problem, oder dass du anscheinend vergessen hattest, wie oft du mich vernachlässigt und mir eine Ohrfeige gegeben hast, wenn ich nach Abendessen fragte. Ich spürte, wie mein Körper von einem leichten Zittern erfasst wurde, ich hörte es wie ein Raunen, als würde ein Kind in meinem Ohr flüstern. Meine Knie wurden weich, als wäre ich immer noch ein kleiner Junge, der nach deiner Aufmerksamkeit schreit, nach deiner Anerkennung lechzt, sich hinter Mülltonnen versteckt.
Nach einer Stunde verabschiedete ich mich von dir, und du fragtest mich, wohin ich als Nächstes reisen würde. Ich antwortete aufrichtig: »Ich weiß es nicht.«
Hat sie geschrien?, frage ich mich. Die Geschichte, die ich meinem Geliebten erzähle, klingt schwach, unausgegoren. Meine Fantasie wandert durch Raum und Zeit; ich stelle mir vor, wie Evelyn vom Empire State Building fällt. Doch sie fällt gar nicht, sondern entspannt ihren Körper und lässt sich vom Wind tragen, schließt die Augen und schwebt ihrem nächsten Leben entgegen. Hat sie geschrien? Ich bezweifle es. Aber es muss eine Schrecksekunde gegeben haben. Jenen Moment der Unsicherheit, bevor sie den sicheren Tod akzeptierte, einen Augenblick, in dem die Welt alle Logik verlor und Evelyn wie eine ausgepresste Zitrone bittere, hässliche Laute ausstieß, bevor sie ruhig wurde und sich vom Wind sanft tragen ließ. Erst da hörte der Schmerz auf, hörte das Herz auf zu pumpen und kam der Tod, schnell, einladend und endgültig.
Zwanzig Jahre lang verbrachte meine Mutter in einem Zustand wie in den ersten Momenten des schönsten Selbstmords, versuchte verzweifelt, die Folgen ihrer Entscheidungen zu korrigieren, schrie, stieß die Fäuste in die Luft, wütend auf die Welt. Nun, da sie ihr unabänderliches Schicksal akzeptiert hat, klammert sie sich an die Erinnerung einer Eleganz, die sie nie besaß; sie macht sich zurecht, damit ihr letztes Porträt das zeigt, was sie als ihr wahres Ich betrachtet: Perlen um den Hals, perfekte Frisur, abgestreifte High Heels und das Lächeln der Akzeptanz im Gesicht. Aber ich werde dich nicht auf deinem Sinkflug begleiten, Mutter. Wir sehen uns an der Limousine.
»Ich bin traurig«, sagst du, als ich die Geschichte beende. Die Luft ist wieder erfüllt von Geräuschen; endlich ist der neue Morgen angebrochen. Ich habe es ein weiteres Mal geschafft, dich eine Nacht lang am Leben zu halten; nun kann ich in Frieden schlafen. Schahrasad braucht ihren Schönheitsschlaf.
»Tut mir leid, dass ich dich traurig gemacht habe«, antworte ich und drücke einen Knopf, um die Vorhänge zu schließen. Sie gehen langsam zu wie in einem alten Theater nach einer gelungenen Aufführung.
»Diese Geschichte handelt von deiner Mutter, nicht wahr?« Es ist eine Feststellung, keine Frage; du erwartest keine Antwort und drehst mir den Rücken zu. Auf deinem Rücken sehe ich das kleine Vogel-Tattoo.
Ich lächle und ziehe die Decke zu mir. »Du alter Deckenwegzieher«, sage ich, »lässt mich frieren.«
Während ich meinen Körper auf den kleinen Tod einstimme und die letzten wachen Momente des Tages genieße, bevor ich mich von dieser Welt verabschiede und in die Welt der Träume eintauche, singe ich dem Tod, der immer noch an der Tür steht, ein leises Lied. Er lächelt mir zu; unter seinem Umhang erkenne ich ihr Gesicht. Sie blickt mich an, mal schuldbewusst, mal vorwurfsvoll, weil ich sie damals in Damaskus verlassen habe, um mit dir um die Welt zu reisen.
»Mach mir ein bisschen Platz«, sagt der Tod, als er langsam in das Zimmer vordringt. Ich höre ihn, aber du nicht. Ich sehe, wie er auf unser Bett zukommt, während du blind für seine Anwesenheit bist. Manchmal ahmt er deine Bewegungen nach, macht sich über dich lustig, während du ihm direkt in die Augen siehst, ohne ihn wahrzunehmen. Er lächelt mich an wie ein alter Freund; er ist mein ganz persönlicher Folterknecht. Er ist meine ständige Erinnerung daran, dass du bald fort sein wirst. Ich heiße ihn in unserem Bett willkommen. Wie jede Nacht, seit ich zurückdenken kann, gesellt er sich zu uns, schläft zwischen dir und mir.
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