Wie kamst du auf diese Idee? Du weißt es nicht mehr. Du warst noch zu jung, um das, was du tun wolltest, begründen zu können. Ich würde sagen, dein Motiv war, dass du dein Erlebnis vom Ramadan-Fest wiederholen wolltest. Beim letzten Ramadan nahm dich dein Vater frühmorgens mit zum Grab deines Großvaters auf dem Friedhof unweit eures Hauses. Die Tradition, die Toten zu besuchen und ihnen ein frohes Fest zu wünschen, ist die demütige Eröffnung eines langen Tages voller Leckereien und Geldgeschenken, gefolgt von zu vielen Süßigkeiten und rassistischen Liedern auf der Schaukel.
»Ali wird niemals sterben, denn seine Töchter sind schwarz und hässlich wie Affen.« Solche Lieder sangen wir zum Ramadan-Fest, in einer Zeit, als es in Syrien noch Feste gab, und ohne Gefühl dafür, wie unangemessen diese Lieder waren.
Du gingst Hand in Hand mit deiner kleinen Schwester in die Richtung, die du für die richtige hieltest. Als ich die Geschichte zum ersten Mal hörte, wusste ich schon, dass ihr euch verlaufen würdet; du hast einen lausigen Orientierungssinn. Du gingst die überdachte Straße des Suks Medhat Bascha entlang, in deiner Nase die Düfte exotischer Gewürze aus den Läden zu beiden Seiten. Dann bogst du nach links in die Qanawat-Straße ein. Damals saßen dort alte Männer und tranken schwarzen Tee, während sie taulieh spielten; sie fluchten, wenn sie schlecht würfelten, und immer wieder zog einer an seiner geliebten arjileh . Jeder brachte seine eigene Wasserpfeife mit, stolz auf die wunderschöne Ausführung seines Exemplars. Du gingst mit deiner Schwester an ihnen vorbei, ohne zu ahnen, dass bald dort, wo diese alten Männer saßen, überall Gebrauchtwarenläden entstehen würden. Die Händler in diesen Läden feilschten den lieben langen Tag lautstark mit alten Frauen auf der Suche nach billiger Kleidung für ihre Söhne und Töchter und stritten sich über die Differenz von fünf syrischen Pfund, die verlangt wurden, aber nicht bezahlt werden wollten. Auch die Besitzer der Gebrauchtwarenläden ahnten nicht, dass bald dort, wo sie sich niedergelassen hatten, Demonstranten unterwegs sein würden, die mit grünen Fahnen gegen das syrische Regime protestierten und aus voller Kehle Freiheit forderten. Die Demonstranten wiederum ahnten nicht, dass sie von Soldaten mit Gewehren und Schwertern verdrängt werden würden, die sofort zu schießen anfingen.
Im lieblichen Licht der frühen Morgensonne seid ihr durch das Gewirr der alten Straßen von Damaskus gelaufen. Deine Schwester zitterte ein wenig, aber dir hat Kälte noch nie etwas ausgemacht. Die Kälte erfrischte dich und gab dir einen Energieschub. Du fühltest dich lebendig und allwissend, wie ein Gott auf seinem Thron. Dein Lächeln verzog sich zu einem Grinsen, als du den Eingang des alten Friedhofs erblicktest. Es war die Schwelle zu etwas Verbotenem, schwer Erreichbarem und Besonderem. Als du den ersten Schritt in den Friedhof machtest, fragtest du dich kurz, ob jemand dich und deine Schwester darauf ansprechen würde, was ihr hier zu suchen hattet. Ob jemand zu euch sagen würde: »Jetzt ist doch noch nicht das Ramadan-Fest, mein Sohn«, und euch zurück zu euren Eltern schicken würde.
Niemand hielt euch auf, als ihr den Friedhof betratet.
Morgens verlieren solche Orte ihren Schrecken; sie werden zu einem Hort der Ruhe und des Friedens, wo die Geräusche vorbeifahrender Autos gedämpft klingen. Du gingst auf der rechten Seite an den Gräbern vorbei und sprachst bei jedem einzelnen den islamischen Gruß, wie es dich dein Vater gelehrt hat. In die Grabsteine waren Verse aus dem Koran und die Namen der Verstorbenen eingraviert. Die Grabsteine in Damaskus sind immer sehr formell: Auf ihnen steht der Vor- und Nachname des Verstorbenen, der Name seines Vaters und das Sterbedatum, gefolgt von Gebeten. Es wirkt unpersönlich und einsam.
Aber dann kommt Eid, das Fest des Fastenbrechens, und die Menschen strömen auf die Friedhöfe. Sie bringen Blumen und Myrte und versammeln sich um die Gräber ihrer Lieben. Sie erzählen den Toten Geschichten und das Neueste von ihren Angehörigen, beten für sie und lesen ihnen Passagen aus dem Koran vor. Väter erzählen ihren Söhnen übertriebene Geschichten von ihren toten Großvätern, um ihren Kindern eine glorreiche Vergangenheit mitzugeben.
»Mein Großvater hatte vier Ehefrauen«, sagte dein Vater bei deinem ersten Besuch auf dem Friedhof, und du standst am Grab und hörtest ihm aufmerksam zu. »Er besaß ein kleines Stück Land am Rand von Ghuta, bei Maschrou Dummar. Dort baute er ein Haus mit Garten. Er pflanzte zwei Bäume von jeder Frucht, die er mochte, damit sie sich vermehren konnten.«
»Er nannte es Noahs Garten«, meinte dein Vater schmunzelnd; von fern drang das Gebet einer weinenden Frau zu euch.
Die Ehefrauen deines Urgroßvaters pflegten sich im Garten zu versammeln, wo ihr Ehemann einen Pool gebaut hatte. Sie schätzten einander, versicherte dir dein Vater, standen sich nahe wie Schwestern. »Sie schwammen im Pool, alle vier um meinen Großvater herum, und brachten ihm Kirschen, Äpfel und Feigen, während er im kühlen Wasser lag, um der Augusthitze zu entkommen.« Nicht einmal beim Schwimmen habe sein Großvater die weiße Kopfbedeckung abgenommen, behauptete dein Vater, vermutlich um seine beginnende Glatze zu verdecken.
Zu spät merktest du, dass du dich, während du in der Erinnerung an die Geschichten deines Vaters schwelgtest und ziellos umhergingst, im Friedhof verlaufen hattest. Angst kroch in deinen Blick, und du packtest die Hand deiner Schwester fester. Auf einmal gerietest du in Panik. Du begriffst, dass du dir einen zu großen Bissen von der Welt genehmigt hattest und daran zu ersticken drohtest.
Beim Anblick deiner Tränen fing deine Schwester an zu weinen. Du liefst kreuz und quer, um den Ausgang zu finden. Anstatt deine Schwester zu trösten, hieltest du nach jemandem Ausschau, der sich um sie kümmern sollte. Du wusstest nicht, was du mit ihr machen solltest, und wünschtest dir deine Mutter herbei, die deine Schwester immer auf den Schoß nahm und wiegte, bis sie sich beruhigte. Inzwischen heulte deine Schwester lauthals. Es war auf dem ganzen Friedhof zu hören. Hoch ragten die Grabsteine über euch auf. Sie kamen dir vor wie Türme, die dir die Sicht auf mögliche Retter versperrten, während sie für deine Schwester Monster waren, die sie verschlingen wollten. Diese Vorstellung ließ sie hysterisch aufschreien.
Plötzlich tauchte ein alter Mann hinter einem der Grabsteine auf; er trug ein weißes Hemd und eine kleine weiße Kappe. Du gingst auf ihn zu, und etwas Vertrautes an seinem langen Gesicht, seinem buschigen weißen Schnurrbart und seiner schwarz gerahmten Lesebrille gab dir ein tröstliches Gefühl der Sicherheit in seiner Nähe.
»Onkel, bitte sag mir, wo ist al-Buzuriyeh?«, fragtest du ihn, und er lächelte.
»Das ist weit von hier. Sehr weit.«
Eure kleinen Herzen rutschten euch in die Kniekehlen, aber während deine Schwester wieder laut aufschluchzte, bliebst du ruhig, wenn auch nur äußerlich. »Wir wollen zur Schule, Onkel, bitte bring uns zur Schule.«
Der Mann wandte sich zum Gehen und winkte euch, ihm zu folgen; er bewegte sich ohne Hast zwischen den Grabsteinen hindurch, berührte dabei jeden einzelnen und sagte as-salaam alaikum . Er sprach mit ihnen wie mit alten Freunden, die er schon lange nicht mehr gesehen hatte. Ihr beide folgtet ihm vertrauensvoll. Wenige Augenblicke später wart ihr am Friedhofstor angelangt. »Geht diese Straße runter«, sagte er, mit seinem zitternden, knochigen Finger deutend, »dann kennt ihr euch wieder aus.«
Ihr würdet zu spät zum Unterricht kommen, deshalb seid ihr gelaufen, aber du blicktest dich noch einmal um, und da war der Mann verschwunden.
»Ich vermisse Damaskus«, sagst du, und ich spüre deinen Stimmungswandel; wieder einmal verliere ich dich an die Dunkelheit. Der Tod hat sich erneut zu uns gesellt, während wir im Haus unserer Abendroutine nachgehen. Er hilft uns, das Licht zu löschen und uns zu vergewissern, dass wir den Herd auch ausgeschaltet haben. Bei unserem frühabendlichen Tanz unterhalten wir uns weiter. Ich rücke den gelben Teppich gerade, und du bläst die Windlichter in der Sitzecke aus. Ich kontrolliere die Küche, während du im Badezimmer deine Medikamente einnimmst. Die Hunde, ebenso alt wie wir, heften sich erst an unsere Fersen, dann verziehen sie sich in eine Ecke, rollen sich zusammen und schlafen.
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