Beifallsgemurmel der Menschenmauer. Man lebte im mentalen Zeitalter und hatte daher ein genußvolleres Verständnis für feingeprägte Paradoxe und Antithesen als in einer Periode journalistischer Faktenanbetung. Trotz meines Uralters und meiner Urjugendlichkeit aber fühlte ich mich nicht anders als jüngst vor dem Einschlafen, also rund fünfzigjährig. Ich war wie erlöst, als die Angel in der Hand des Fremdenführers sich von mir weg und dem zerlämperten Himmelsglobus zuwandte:
„Damals, Seigneur und liebe Zuhörer sonst“, bog er nun endlich in seinen Fremdenführervortrag ein, „damals, ehe die Goldschmiede aus ihrem zu ihrer Zeit so hochgeschätzten Metall die Bänder dieser primitiven Himmelsabbildung zurechthämmerten, hatte die Menschheit das Ärgste schon überstanden. Der Letzte Krieg wurde nämlich nicht mehr wie der Vorletzte Krieg mit rettungsloser Teufelei von allen gegen alle geführt, sondern nur mehr von ausgewählten Zehntausend gegen ausgewählte Zehntausend. Beide Zehntausend vernichteten einander innerhalb von drei drei Zehntel Minuten bis auf den letzten Mann, wodurch bewiesen war, daß die waffenmäßige Austragung von Zwistigkeiten nichts mehr wirklich entscheiden und daher auch länger nicht als zeitgemäß gelten könnte. Zwar erhoben sich nach jenen drei drei Zehntel Minuten der gegenseitigen Vernichtung noch einige fanatische Stimmen, welche beide Parteien zum Zwecke völliger Ausrottung aufeinander hetzen wollten, aber sonderbarer-, ehrenwerter- und unerwarteterweise siegte diesmal die Stimme der Vernunft. Man erinnerte sich mit Entsetzen des Vorletzten Krieges, der viele Menschenalter zuvor den Planeten verödet, die Überlebenden zu Höhlenbewohnern gemacht und ihnen alle Wissenschaft und, wie einige Fachgelehrte behaupten, sogar das Sprachvermögen genommen hatte. Die plumpe Geistesstufe, auf der die Menschen zur Zeit jenes Vorletzten Krieges standen, erkennen wir auch noch an ihren plumpen Waffen. Wer kennt nicht die Fernsubstanz- oder Fernschattenzertrümmerer, deren Anzahl unerschöpflich scheint? Die Kinder im Park des Arbeiters spielen mit diesen Fernsubstanzzertrümmerern, die freilich nicht mehr durch Aufknackung der Nuclei den Weltraum der Unikel freilegen . . .“
„Ich möchte doch gebeten haben“, ließ Fiancé Io-Do einen Zwischenruf hören, seine eigne Waffensammlung verteidigend.
Die Blicke des Fremdenführers suchten mich, ehe er den interessanten Vortrag fortsetzte, den ich natürlich nicht in seinen, sondern nur in meinen Worten wiedergeben kann, wodurch ich ihm viel von seiner glatten Kälte und sternenfernen Unbeteiligtheit wegnehme. Ihm, dem privilegierten Fremdenführer dieses Zeitalters, war Krieg und Kriegsschrecken gleichgültiger und irrealer als dem Fremdenführer durch die Gefängnisse der venezianischen Dogen das verschollene Todesröcheln der Angeschmiedeten unter den Bleidächern.
„Das Zeitalter, welches dem Vorletzten Kriege unmittelbar voranging“, fuhr der Redner fort, „glich nicht mehr den Anfängen der Menschheit, deren schätzenswerten Augenzeugen wir zur Genugtuung des heutigen Tages bei uns haben. Seigneur könnte gewiß aus näherer Kenntnis als der hellsichtigste Gelehrte das primitive Leben des Urmenschen schildern, als da noch auf jede zehn Quadratmeilen ein anderer Stamm mit andrer Sprache, andern Sitten, andern Gebräuchen unter Zelten, niedrigen Strohdächern oder gar in termitenmäßigen oder schachtelartigen Hochgebäuden wohnte . . .“
Ich preßte verzweifelt B.H.s Hand:
„Um Gottes willen“, flüsterte ich, „ich werde kein Wort reden. Ich lasse mich nicht zwingen . . .“
B.H., sichtlich verärgert durch mein Benehmen, machte zum Fremdenführer hin ein verneinendes Zeichen, der nachsichtig nickte und seinen Vortrag ohne Pause fortsetzte:
„Zur Zeit des Vorletzten Krieges war unser Globus bereits heptalingual. Es gab nur mehr sieben verschiedene Sprachen, sieben verschiedene Völker, sieben verschiedene Reiche, wie es sieben Farben gibt. Ein Teil dieser Reiche, Völker, Sprachen, bewohnte mehr die Inseln, der andre mehr die Kontinente. Die Bewohner der Inseln waren reicher, friedlicher, vernunftentwickelter und phantasieloser, die Bewohner der Festländer waren ärmer an Lebensgütern, sie machten nicht die allgültige Logik zu ihrer Richtschnur, sondern vage Gefühle und Träume, die ihre Herzen füllten. Sie waren unbefriedigt in ihrem Lebenswandel, diese Kontinentalen, und darum fühlten und träumten sie zu viel und zumeist ungesund. Doch all ihre Gefühle und Träume enthielten unbezähmbaren Neid gegen die Inselbewohner, die leichter lebten. Die Neidischen, von Propheten und andern Demagogen angestiftet, verbanden sich zu einer Koalition, die schließlich durch eine tückische und unaufrichtige Politik den Vorletzten Krieg auf Erden erklärte, welcher, wie ich schon berichtet habe, zur beinahe vollkommenen Ausrottung beider Völker- und Mächtegruppen führte, so daß die armseligen Reste der Menschheit von vorne anfangen mußten und mehrere hundert Jahre dazu brauchten, um eine neue zaghafte Zivilisation zu schaffen. Diese neue Zivilisation aber, als sie die höchste Stufe erreicht hatte, war schon fortentwickelter als die vorige, nämlich ambiglossal. Es gab nur mehr zwei Sprachen, zwei Nationen, zwei Reiche. Dieses Doppelsystem schien sich eine geraume Zeit lang aufs beste zu bewähren, und die Theoretiker triumphierten schon, daß es die unzerstörbare Grundlage für den endlich verwirklichten Ewigen Frieden bilden werde, zumal von beiden Seiten ein bis auf den heutigen Tag berühmtes Staatsgesetz angenommen wurde, das betitelt war: Pflicht zur gegenseitigen Einmischung.“
Entzückt über diese Formel, die den Zweiten Weltkrieg meines eigenen Zeitalters so leicht hätte abwenden können, rief ich:
„Bravo, bravo, das ist aber eine feine Bill“, worauf sich Bräutigam, Wortführer, Hausweiser, Beständiger Gast und noch einige andere erstaunt und verständnislos nach mir umwandten, während der Wiedergeborene neben mir tat, als habe er nichts gehört. Der Fremdenführer aber ließ sich durch meinen parlamentarischen Zustimmungslaut nicht stören:
„Es war eine Illusion“, sagte er mit der baritonalen Vibration eines gewiegten Schauspielers, der seine wohlaufgebaute Rede in einer Kadenz der Vergeblichkeit verhauchen läßt, „das Zweinationensystem brachte der Menschheit die Rettung nicht, und es mußten noch viele, viele Zeitalter vergehen und so manche Vorrückung der Sternbilder erfolgen, ehe es dem Menschen endlich gelang, dem natürlichen Ausgang des Lebens allen Schrecken zu nehmen und ihm jene milde Freiheit und Würde zu geben, die den Krieg und die Vorstellung von physischer Feindseligkeit zu einem absurden Nachtmahr macht, den der moderne Mensch eher für ein Lügengewebe überspannter Geschichtsforscher hält als für jenen grauenhaft wirklichen Höllenzwang, dem vor Jahrtausenden sein eigenes Geschlecht unterworfen war. Ja, wenn die Fernsubstanzzertrümmerer nicht wären und die anderen Waffen, auf denen gewissermaßen unsere Häuser gebaut sind . . .“
„Sehr richtig“, rief der Fiancé befriedigt.
„Und dieses Denkmal hier aus gehämmertem Goldmetall, das über den zwanzigtausend wohlerhaltenen Menschenschädeln jenes Letzten Krieges errichtet wurde . . .“
Bei Nennung des Wortes „Menschenschädel“ begannen viele Kinder zu weinen und zu zetern. Ihre Mütter suchten sie zu beruhigen, indem sie leise auf sie einsprachen oder gar Wiegenlieder sangen. Es war ein schmerzliches Gesumm ringsum. Die große Menschenmenge hielt sich ängstlich von dem umgitterten Kreis des Denkmals fern, als habe niemand mehr die Nerven, den Anblick von Totenschädeln zu ertragen. Wieder einmal hatte einer, und zwar der privilegierte Fremdenführer dieses Zeitalters, das Wort „Tod“ vermieden. Was meinte er aber unter der „milden Würde und Freiheit“, die der moderne Mensch „dem Ausgang des Lebens gegeben hatte“? Immer wieder wurde ich vor das wohlbehütete Geheimnis der gegenwärtigen Welt gestellt, und immer tiefer berührte mich dieses Unbekannte. Doch ich mußte schnell mein Gehör dem Vortrag zuwenden, von dem ich bereits einige Sätze versäumt hatte.
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