„Es war somit“, schlug die etwas heisere Eloquenz an mein Ohr, „nicht wie bei der uranfänglichen Menschheit die natürliche Reibung der Notdurft, die zum Kriege führte, oder die andersgeartete Götterverehrung, sondern nichts als pure, lächerliche Eitelkeit. Jedermann, und zumal die reifere Schuljugend, die ich hiemit eigens begrüße, weiß aus dem Geschichtsunterricht, daß zur Zeit des Letzten Krieges die beiden bestehenden Nationen der Erde sich nannten: Die Blauen und die Roten. Nun hatten die Blauen sowohl als auch die Roten im Laufe ihrer Geschichte einen strahlenden Namensschatz großer Männer und Frauen angesammelt in allen Reichen menschlichen Strebens, als da sind: Gotteskunde, Weltallsweisheit, Chronosophie, Sternwanderschaft, Verwunderertum, Fremdfühlerei, Dichtung, Wissenschaft der Materie, Wissenschaft des Erkennens, Musik, Bildnerei, Abschilderei, Körpergewandtheit und Spiel, obwohl letzteres, das ist der Wert des zwecklosen Spiels, erst knapp vor unserer Zeit ganz und gar erfaßt wurde. Es gab sohin blaue und rote Genies in Hülle und Fülle. Man nannte sie unsterblich und trieb mit ihrem Namen allerlei Aufwand und großen Pomp zum Ersatz für die Sensationen der Politik, die damals schon langsam hinzudorren begannen. Da machte eines Tages ein blauer oder roter Astronom den Vorschlag, man solle die Namen der Sterne, die sich seit der fernsten Urzeit nicht geändert hatten, umbenennen mit den Namen der größten Gotteskünder, Weltalls weisen, Lebensweisen, Dichter, Gelehrten, Bildner, Sänger, Tänzer, Ballspieler, Billardspieler usw. Von der Seite der andern Nation wurde unverzüglich geantwortet, man sei begeistert von dem Gedanken, das Himmelsgewölbe mit den Namen blauer und roter Genies auszusternen. Ein glanzvoller Kongreß trat zusammen, der mehrere Jahre lang tagte. In den ersten Jahren herrschte die schönste Übereinstimmung unter den Mandataren. Zuerst wurden die großen Genies der Frühzeit, die sich in der Geschichte erhalten hatten, unter die Sterne versetzt, es war eine recht ansehnliche Ziffer, dann folgten die Namen der blauen und roten Meister auf allen Gebieten. Da es aber leider unendlich viel mehr himmlische Sterne gab als menschliche Stars, war man gezwungen, bei der großen Umbenennung des Nachthimmels — die jetzt freilich ganz und gar vergessen ist — bis auf die dritte, vierte und fünfte Besetzung des Ruhms hinunterzugehn. Da zwinkerte ein höllischer Dämon mit den Augen, und wegen eines gleichgültigen Ballspielers oder Coupletsängers, rot oder blau, die Historiker haben’s nie ermittelt, brach der große Zwist aus. Die Blauen, es können aber auch die Roten gewesen sein, verließen bebend vor Zorn und unter lautem Protest den Beratungssaal. Ein Mückenstich hatte genügt, den schlummernden Nationalhaß aufzureizen und das hochgerühmte Zweivölkersystem zu sprengen. Immerhin aber waren der Anlaß des Letzten Krieges, wie man das Duell der zweimal Zehntausend nennt, die Sterne am Himmel, ein Fortschritt, es waren die Sterne am Himmel . . . die Sterne . . .“
Die Worte des Fremdenführers dieses Zeitalters verhallten mir im Ohr. Ich konnte sie nicht mehr verstehn. Es war Nacht geworden, und ich hob den Kopf zum Himmel. Einer schönen Sommernacht gedachte ich da, wo ich ebenso den Kopf zum Himmel gehoben hatte, daß er beinahe waagrecht lag. Es war in der Nähe unsres Hauses gewesen, in den Voralpen. Die Milchstraße wölbte sich auch damals über mir, das Mondlicht aber war so stark, daß ihr Schleier nur wie eine Ahnung wehte. Und jetzt war ich tot. Und nicht genug damit, ich befand mich in dieser fremdesten aller Welten, eine zur Schau gestellte Rarität. Wie aber hatte selbst der Himmel sich verwandelt! Man konnte ihn mit dem alten sparsamen Himmel jener verschollenen Nacht ebensowenig vergleichen wie eine überüppige Blumenwiese im Juli mit einer Wiese im März nach der Schneeschmelze. Ich bin kein Astronom noch sonst ein Himmelsgucker oder -kenner; die Zahl der Sterne jedoch schien sich, verglichen mit meiner eigenen Lebenszeit, verzehnfacht zu haben. War es nur die trockener und klarer gewordene Erdatmosphäre, die mehr Sternmillionen enthüllte als früher? Waren inzwischen neue Gestirne in solch unfaßbarer Überzahl ins Leben getreten? Oder fehlte einfach der liebe Mond?
Ich fühlte plötzlich, daß eine schier grauenhafte Wehmut in meiner Kehle emporstieg, ein ganz unausdrückbarer Jammer, wie ich ihn nie gefühlt hatte. Obwohl mein Gesicht starr blieb — es war neuartig kalt geworden um mich —, begannen die Wasser aus meinen Augen zu stürzen. Ich war viel zu traurig, um mein nicht mehr ganz reines Taschentuch zu ziehen. Ich lehnte nur mit zusammengebissenen Zähnen mein Gesicht gegen B.H.s Schulter.
„Was hast du denn, F.W.?“ fragte der alte Freund verstört.
„Mir ist so leid um den Mond, B.H.“, stammelte ich.
Worin ich einen Blick in „Die Abendsterne Heute“ tue, zum Unparteiischen in der wichtigsten Streitfrage aller Zeiten bestimmt werde, einen ansehnlichen Erfolg erringe und infolgedessen dem schlummernden Welthausmeier oder auch Geoarchonten oder auch Erdballpräsidenten meine Aufwartung machen darf.
DIESE GRAUENHAFTE WEHMUT, diese herzzerreißende Sentimentalität, ein wahres kosmisches Hundegefühl, welche mir das salzige Naß in die Augen und ein Aufschluchzen in die Kehle trieb, war glücklicherweise unbegründet. Ja, ich hatte grundlos um den Mond gelitten. Die gute Luna war während meiner langen Abwesenheit nicht vom Himmel verschwunden, nicht war sie von ewiger Nacht verschlungen, nicht im Nachhall der Sonnenherzattacke in Millionen Meteore zersprungen, sie war intakt und unverwandelt geblieben mit allen ihren vier Vierteln. Ich konnte mich selbst überzeugen davon, ohne daß mich B.H. erst mit Worten beruhigen mußte, denn gerade in diesem Augenblick war die traute Mondscheibe in ihrem schwachen ersten Viertel am aufgeworfenen Rand der weiten Waagschale sichtbar geworden, die ferne Spiel- und Silhouettenarchitektur der Türme, Türmchen, Giebel, Erker, Kuppeln, Zinnen am östlichen Horizonte nachschwärzend.
Ich kam aber gar nicht dazu, mich über die Vorhandenheit des alten Mondes so recht zu freuen, da, ungeheuerlich ganz und gar, ein wüstes astronomisches Phänomen am Nachthimmel Platz zu greifen begann. Wir wissen schon, daß der Nachthimmel dieses Zeitalters mit zehnmal dichterem Sterngewimmel übersät war als etwa der Himmel einer vollausgestirnten südlichen Augustnacht des zwanzigsten Jahrhunderts auf Bergesgipfeln oder hoher See. Der Vergleich mit einer blumendichten Sommerwiese, den ich vorhin gebrauchte, ist ziemlich zutreffend. Die einzelnen Sterne, soweit man unter diesen Sternklumpen, Sterntrauben, Sternschleiern von einzelnen Sternen überhaupt sprechen konnte, waren um viele, viele Grade heller und größer als damals, und der zusammengeschrumpfte, schwarze Nacht-Raum zwischen und hinter ihnen schien weit zurückzutreten. (Angesichts dieser fortschreitend sich entschleiernden Weltenfülle mußte die Astronomie eine Wissenschaft geworden sein, deren Inventuraufnahme allein schon über Menschenkräfte ging.) Zu meiner Zeit, da man mit freiem Auge am Nachthimmel kaum dreitausend Sterne unterscheiden konnte, hatte man das Universum mit einer explodierenden Granate verglichen, deren Partikel, die Sterne, nach allen Seiten auseinanderfahren. Die Gelehrten waren wie so oft in dieser Theorie einer Illusion erlegen. Die dichte Belebtheit des Nachthimmels Jetzt zum Unterschiede von Einst hätte mir sofort die Wahrheit eingeben müssen: Das Universum atmet. Beim Einatmen ziehen sich die Gestirne im Raume zusammen, beim Ausatmen fahren sie auseinander. Diese große, hohe Wahrheit aber sollte ich erst viel später aus dem Munde des Hochschwebenden erfahren. — Eine künstliche Beleuchtung des Geodroms, der zentralen Plaza, wäre völlig überflüssig, ja hinderlich und störend gewesen. Wir waren eingehüllt in Licht, das ganz anders und weit schwächer als Sonnenlicht war, aber dennoch Licht; es war ein bläulich volles Licht, das die Gestalten und Gegenstände völlig ausmodellierte, nicht anders als der Tag, ihnen aber die Farbe nahm. Da aber in der Farbe das große Geheimnis der spektralanalytischen Täuschung liegt, und die Farbe mehr der Maya angehört als die Form, so kann ich dieses übertriebene Sterntageslicht mit Recht ein geistiges Licht nennen, geistiger zumindest als das der Sonne. Wir standen somit umhüllt von astromentaler Nachthelligkeit. Und jetzt ereignete sich folgendes:
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