„Sie ... ist ...?“
Ich wies zur Tür und sagte:
„Seit ein paar Minuten. Und obschon es ihr nicht leicht fiel, hinaufzukommen, so fürchte ich doch, daß es noch schwieriger sein wird, sie wieder hinauszubefördern.“
Die Beamten gingen dem Schrei der beiden Frauen nach, während Rolf die Damen, die ihn hinaufgetragen hatten, jetzt vergebens zu bestimmen suchte, daß sie ihn wieder hinunterbrachten.
Ich bat Timm, zur allgemeinen Beruhigung von der Flurtür aus ein paar Gedichte vorzutragen. Da er ablehnte, blieb mir nichts anderes übrig, als die Feuerwehr zu alarmieren. „Menschenleben in Gefahr!“ meldete ich. Nach etwa fünf Minuten fuhren drei Wagen vor, wurden die Spritzen angesetzt, ergoß sich ein Meer von Wasser durch die Haustür, über die Treppen, in die Zimmer — schwammen die Beamten mit Po Gri und Häslein um die Wette, während wir dank dem fürsorglichen Burg hinter festverschlossenen Türen und Fenstern diesem seltenen Schauspiel zusahen.
Nur die erschöpfte Stimme des höheren Beamten vernahm ich noch, der seinem Kollegen zuprustete:
„Dies Haus werden wir jedenfalls im Auge behalten.“
Nichts konnte mir in einer Zeit, in der Mord, Totschlag und Einbrechen an der Tagesordnung waren, willkommener sein.
Am Abend dieses Tages glich meine Wohnung einem Zirkus unter Wasser, und ich, der beneidete Inhaber der vielumstrittenen Tiergartenvilla, hätte mit jeder trockenen Dreizimmerwohnung in einem Gartenhaus getauscht.
Ich rechnete damit, daß meine Freunde ein Einsehen und Verständnis für meine verzweifelte Lage haben würden.
„Drei von euch müssen hinaus,“ sagte ich, „und wenn ich einen Wunsch äußern darf, so wäre mir am liebsten, wenn Etville bleibt. Er ist der ruhigste und hat am wenigsten Anhang.“ Aber Rolf und Töns dachten gar nicht daran. Rolf meinte:
„Ich ärgere mich den ganzen Tag über so viel in meinem Beruf, daß ich diese Erholung des Abends geradezu nötig habe.“
„Erholung nennst du das?“ fragte ich empört.
„Gewiß! Ich habe mich den ganzen Winter über in keinem Theater und auf keiner Gesellschaft auch nur annähernd so gut unterhalten wie in den vierundzwanzig Stunden unter deinem Dach.“ Und Etville erklärte strahlend:
„Ich bin so gespannt, wie sich das hier weiter entwickelt, daß ich entschlossen bin, meine Reise nach Amerika aufzugeben. Nur, um hier nichts zu versäumen.“
Meine letzte Hoffnung war Timm. Ich trat an ihn heran und sagte:
„Aber du, Karl Theodor, du fühlst mit mir!“
„So sehr,“ erwiderte der, „daß es unfreundschaftlich von mir wäre, wenn ich dich in dieser Lage verlassen würde.“
Mithin blieb nichts anderes übrig, als die Versuche, Ordnung in dies Chaos zu bringen, fortzusetzen. Daß dazu nur eine Frau imstande war, stand für mich fest. Daß diese Frau unter den Unzähligen war, die sich anboten, war durchaus nicht sicher. Denn wie viele gab es denn, die all die Eigenschaften in sich vereinten, die dieser Posten erforderte? War aber wirklich eine darunter, so mußte man mit hellseherischer Kraft begabt sein, um sie aus diesen Bergen von Briefen herauszufinden.
Wir saßen ratlos vor einer unlösbaren Aufgabe. Die erste Hilfe leistete uns gesunder Fraueninstinkt. Frida erlaubte sich den Vorschlag, zunächst einmal alle die auszuscheiden, die an den Antritt die Bedingung knüpften, daß bei gegenseitigem Sichverstehen spätere Ehe nicht ausgeschlossen sei. Damit wanderte bereits mehr als ein Drittel in den Papierkorb. Auf Töns Rat hin schieden sodann alle die aus, die sich selbstgefällig anpriesen oder deren Bewerbungen nach schlechten Parfümen rochen. Damit war das zweite Drittel erledigt. — Ich führte den Gedankengang von Töns weiter und suchte aus dem Drittel, das übrigblieb, diejenigen heraus, die in irgendeiner Form Bedenken äußerten, ob sie dieser ungewöhnlichen Aufgabe auch wirklich gewachsen wären. Denn, sagte ich mir, wer ohne jede Hemmung nach diesem Posten, der auf alle Fälle ein Experiment blieb, greift, war ohne Verantwortungsgefühl oder litt an Größenwahn.
Diese von uns gestellten Forderungen erfüllten im Ganzen nur sechs Bewerberinnen, von denen wir uns schließlich für die folgende entschieden: Auf einem weißen, starken Kartenbrief mit Wappen stand in Schriftzügen, die Energie verrieten:
„Falls Ihr guter Wille so groß ist wie meine Entschlossenheit, habe ich den Mut, Posten zu übernehmen. Früher Tod der Eltern stellte mich unter jüngeren Geschwistern in unserem Majorat vor ähnlich schwierige Aufgabe, die ich einigermaßen zufriedenstellend gelöst zu haben glaube. Meine Jugend und mein Aeußeres sind nicht überwältigend.
Baronin Inge von Linggen,
zur Zeit Schloß Berg am Anger, Steiermark.“
Diese Bewerbung, die durchaus nicht ungeteilten Beifall fand, war zugleich eine der kürzesten.
„Das wird eine nette Vogelscheuche sein!“ meinte Timm.
„Macht nichts! — für das Auge ist gesorgt,“ erwiderte Töns und sah dabei Frida an.
Ueber ihr vermutliches Alter entspann sich ein Streit. Am höchsten schätzte Rolf, der meinte, sie werde so um die Fünfzig herum sein, während Burg, in dem ich so eine Art Betriebsrat sah und dem ich daher den Brief zeigte — denn die Besetzung dieses Postens betraf die Dienerschaft mehr als uns — mit erstaunlicher Bestimmtheit erklärte:
„Höchstens achtundzwanzig.“
„Das ist zu jung!“ meinte Frida. „Wir müssen doch Respekt haben.“
Rolf schlug vor, telegraphisch ein Bild zu fordern, das die meisten eingelegt hatten, und nach dem Alter zu fragen.
„Dann lehnt sie ab,“ sagte ich und setzte durch, daß wir ihr telegraphierten:
„Erwarten Sie so bald als möglich.“
Wir hatten in diesem Augenblick wohl alle das Gefühl, daß Frau von Linggen als Persönlichkeit wichtiger war als jeder einzelne von uns. Denn mit diesen sechs Worten begaben wir uns, zum mindesten innerhalb unserer vier Wände, des Rechts, zu tun und zu lassen, was wir wollten. Jeder von uns hatte eingesehen, daß das Spiel des Lebens ohne die Hand eines Regisseurs in diesem Hause unmöglich war. Diese Erkenntnis und das vielleicht überhebliche Gefühl, dank Instinkt und Intelligenz von Tausenden die Vollkommenste gewählt zu haben, sicherte Frau von Linggen von vornherein ein Prestige, ohne das ihr Posten aussichtslos gewesen wäre. Und als nach Verlauf von zwei weiteren unruhigen Tagen und Nächten Burg mir eines Vormittags weit förmlicher als sonst meldete:
„Baronin von Linggen wünschen Herrn Doktor zu sprechen,“ da sah ich ihn nur an und las aus dem Ausdruck seines Gesichts und seiner Haltung, daß sie die Richtige war.
In einem langen Sealskinmantel, ebensolcher Mütze, elegantem Schleier, schwarzen Schweden, Lackschuhen und hohen Gamaschen trat eine schlanke Dame mit schmalem, blassem Gesicht, großen braunen Augen und dunkelblondem Haar ins Zimmer.
Ich hatte mir gedacht, wie schwer ihr wohl ums Herz sein würde, wenn sie zum ersten Male die Schwelle dieses Junggesellenheims betrat. Ich sah sofort, ich hatte mich geirrt. Sicher, als wenn sie seit Jahren hier ein- und ausginge, trat sie ein. — Mein zweiter Gedanke war: Sie ist reichlich hübsch und elegant. — Und als wir uns gegenüberstanden und ich ihr die Hand reichte, dachte ich: Sie weiß, was sie will.
Ich machte ein paar Redensarten, daß ich mich freue und hoffe und so weiter — und sah an dem Ausdruck ihres Gesichtes, daß sie, was ich sagte, nicht gerade besonders originell und klug fand.
Etville, der hinzukam, stutzte, als er sie sah, war aber im selben Augenblick auch schon Herr der Situation und sagte:
„Gnädigste sind hier in eine nette Räuberbande geraten.“
Sie erwiderte lächelnd:
„Ich fürchte mich nicht.“
Ich forderte sie auf, sich zu setzen und begann, ihr die Situation so schonend wie möglich zu schildern. Sie hörte gespannt zu. Als ich auf die Schwierigkeiten hinwies, die in der so verschiedenen Lebensführung der einzelnen Bewohner lag, meinte sie:
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