Eine gewagte Idee. Aber wir waren voller Euphorie. Ich war der Macher, Günther hatte das Know-how. Schließlich war er bereits bei einer doppelten Langdistanz gestartet. Den Gedanken, dass die Organisation eines solchen Wettkampfes vielleicht eine ganz andere Hausnummer wäre, schoben wir beiseite. Also riefen wir im Sommer 1992 den Triple-Ultra-Triathlon in Lensahn ins Leben: 11,4 Kilometer Schwimmen auf einer 50-Meter-Bahn im Lensahner Freibad, 540 Kilometer Radfahren auf einer 10-Kilometer-Wendepunktstrecke, und am Ende sollten die Athleten die drei Marathonläufe von 126,6 Kilometern auf einem 1,3 Kilometer-Rundkurs absolvieren. Aber damit nicht genug. Günther und ich wollten das Ganze nicht nur organisieren, sondern natürlich auch selbst daran teilnehmen. Das Vorhaben war gewagt und die Planung umfangreich, aber das störte uns beide nicht im Geringsten, und wir stürzten uns sogleich in die Arbeit.
Der erste Ultra-Triathlon in Lensahn war sehr provisorisch. Die Ausschreibung und die Startunterlagen waren teils auf Deutsch, teils auf Niederländisch, denn als Vorlage dienten uns die Dokumente von Lelystad. Auch war es äußerst gewagt und unfassbar stressig, als Veranstalter am eigenen Wettkampf teilzunehmen. Aber es funktionierte irgendwie. Am Vorabend saß ich nachts um zwei Uhr noch immer am Wohnzimmertisch und beschriftete die Badekappen für die Athleten, aber morgens um sieben stand ich pünktlich am Start meines ersten Ultra-Triathlons. Ich war total müde und ausgelaugt. Die Vorbereitungen gepaart mit meinem eigenen Training hatten mich am Ende doch mehr Kraft gekostet als gedacht. Dennoch war ich heiß auf den Wettkampf und voller Motivation. Ich wusste, mir blieb nichts anderes übrig, als mich während des Wettkampfes vom Vorbereitungsstress zu erholen. Denn da hatte ich endlich meine Ruhe. Keine Fragen mehr. Keine Probleme zu lösen. Sobald der Startschuss fiel, konnte ich im Schwimmbecken ganz gemütlich meine Bahnen ziehen, ohne dass mir ständig jemand mit organisatorischen Dingen in den Ohren lag.
Ich genoss die ersten Kilometer in vollen Zügen. Wasser war mein Element. Jedoch war ich das freie Schwimmen in der Ostsee gewöhnt und nicht das monotone Kachelzählen im Freibad. Mit jedem Abstoß wurden meine Waden mehr und mehr gefordert. „Wie geht es dir?“, fragte mich Brigitte besorgt, als sie mir eine Banane am Beckenrand reichte und dabei mein zerknirschtes Gesicht sah. „In den Armen habe ich Power, nur die Beine machen Sperenzchen“, antwortete ich vollkommen enttäuscht von mir selbst. Aber es half ja nichts. Schließlich hatte ich erst die Hälfte der 228 Bahnen absolviert. Vorsichtig nahm ich die nächsten 50 Meter in Angriff. Ich konnte gar nicht so schnell reagieren, wie mir von einer Sekunde zur nächsten ein schmerzhafter Krampf in die Wade schoss. „Jetzt bloß einen kühlen Kopf bewahren“, versuchte ich mich selbst zu beruhigen. Aber anfängliche Versuche, den Krampf selbst herauszudrücken, scheiterten kläglich. Also blieb mir nichts anderes übrig, als eine professionelle Massage in Anspruch zu nehmen. Dies bescherte mir zwar eine halbstündige Zwangspause, aber die Wade war danach wenigstens wieder fit.
Auf dem Rennrad fühlte ich mich dann pudelwohl. Der gesamte Stress der letzten Wochen fiel augenblicklich von mir ab. Auch beim Laufen konnte ich meine Stärken ausspielen, so dass ich am Ende mit 49 Stunden und 46 Minuten überglücklich als Vierter im Gesamtklassement ins Ziel einlief.
Meine besten Ergebnisse erzielte ich immer dann, wenn ich unbedarft und ohne Zeitdruck in einen Wettkampf ging. So auch diesmal. Ich hatte keine Ahnung, was mich während der dreifachen Ironman-Distanz erwarten würde, geschweige denn, wie ich auf die Erschöpfung eines Ultra-Triathlons reagieren würde. Ohne persönlichen Erwartungsdruck bestritt ich einfach nur meinen eigenen Wettkampf und machte mir keinerlei Gedanken über Platzierungen.
Die erste Auflage des Triple-Ultra-Triathlons in Lensahn war ein voller Erfolg. Elf Athleten, davon zwei Frauen, waren 1992 mit dabei. Vier Athleten mussten vorzeitig den Wettkampf beenden, darunter der „Fitnesspapst“ Dr. Ulrich Strunz. Später sollte er mit seinem Buch Forever Young die deutschen Bestsellerlisten anführen. Zum damaligen Zeitpunkt war Strunz für seine zahlreichen Ironman-Starts innerhalb kürzester Zeit in der Triathlon-Szene bekannt. Die beiden Sieger der Erstauflage, Astrid Benöhr (39:51 Stunden) und Karl Kiermeyer (36:57 Stunden), glänzten trotz hochsommerlicher Temperaturen mit hervorragenden Zeiten. Auch Günther erreichte nach 57 Stunden und 52 Minuten das Ziel.
540 Kilometer Radfahren beim Triple-Ultra-Triathlon in Lensahn war für mich die reinste Erholung.
Seitdem hat sich der Triple in Lensahn zu einem jährlich wiederkehrenden Event in der Ultra-Triathlon-Welt etabliert. Bis heute liegt die Erfolgsquote der startenden Athleten bei mehr als 83 Prozent. Von 820 Teilnehmern kamen bis 2015 unglaubliche 686 Triathleten ins Ziel.
Last als Lust
Drei Jahre später startete ich erneut als Organisator bei meinem eigenen Rennen. Der Norddeutsche Rundfunk produzierte aus diesem Anlass eine Dokumentation über meine Vorbereitung und den Verlauf meines Wettkampfes. Zeitgleich wurde Theo, Oberstudienrat für Sport und Mathematik, der ebenfalls als Teilnehmer in Lensahn antrat, mit den Kameras begleitet. Last als Lust war der Titel der Produktion, die dem Zuschauer das Thema Ultra-Triathlon näherbringen sollte. „Was sind das für Menschen, die sich solchen Strapazen aussetzen?“, eine der Fragen, mit denen sich der Regisseur beschäftigte.
„Den Körper zu belasten, ist für mich eine ganz besondere Sache“, antworte ich auf die Frage nach der Motivation, einen solchen Wettkampf zu absolvieren. „Je mehr ich mich belaste, umso wohler fühle ich mich. Ultra-Triathlon ist ein Kampf mit sich selbst und mit dem Inneren – aber ein durchaus positiver Kampf.“ Und obwohl ich versuchte, ganz entspannt in den Wettkampf zu gehen, stand ich durch die Produktion doch im Fokus der Medien und ein Stück weit auch in unfreiwilliger Konkurrenz zu Theo.
25 Männer und eine Frau nahmen an der nunmehr vierten Auflage des Triple-Ultra-Triathlons in Lensahn teil. Mittlerweile hatte ich bei anderen Wettkämpfen einiges an Erfahrung im Ultra-Bereich sammeln können und wusste, dass ich die körperlichen und mentalen Fähigkeiten dazu hatte, auch längere Distanzen ohne größere Pausen durchzustehen. Natürlich verbrachte ich im Vorfeld des Events erneut bis zu 90 Prozent meiner Zeit mit organisatorischen Tätigkeiten, was am Ende ganz eindeutig zu Lasten meines Trainings ging. Dabei ist Ultra-Triathlon kein Pappenstiel. Wenn jemand sagt, das mache ich jetzt mal so nebenbei, dann kann das leicht schiefgehen. Aber ich wusste, dass ich auf meine Erfahrung zurückgreifen konnte, auch wenn ich nicht optimal auf den Triathlon vorbereitet war.
Der Auftakt verlief jedoch nicht gerade vielversprechend. „Das darf doch nicht wahr sein!“, dachte ich missmutig und hielt mich verzweifelt am Beckenrand fest. Da schwamm ich stundenlang in der eisigen Ostsee, aber im Schwimmbad hatte ich erneut nach kürzester Zeit die heftigsten Wadenkrämpfe. Ob dies damit zusammenhing, dass ich nach jahrelanger Tätigkeit als Fliesenleger die Kacheln im Becken nicht mehr sehen konnte?! Was der Auslöser war, bleibt ein ewiges Mysterium. Also schleppte ich mich eher schlecht als recht durch die 11,4 Kilometer lange Schwimmstrecke und war mehr als erleichtert, als ich nach etwas mehr als viereinhalb Stunden endlich auf mein Rad steigen konnte.
Brigitte und ich waren mittlerweile ein eingespieltes Team, wenn es um meine Extrem-Ausdauer-Wettkämpfe ging. Sooft es die Zeit erlaubte, war sie mit dabei und betreute mich mit vollem Einsatz. Mit unserem Wohnmobil stand sie an der Strecke und bereitete mir all die Speisen zu, nach denen es mir gelüstete. Und ich hatte viele Gelüste während eines Rennens! Aber Brigitte kannte sie genau und wusste, worauf ich Appetit hatte. Sie las mir jeden Wunsch von den Augen ab. „Mein Mann ist ein Vielfraß“, erzählte sie munter den Filmleuten, während wir gemeinsam am liebevoll gedeckten Campingtisch neben der Laufstrecke saßen. Akribisch zählte sie auf, was ich während eines Ultra-Triathlons so alles verputzte: Nudeln, Hähnchenkeule, Schokolade, Riegel, Pudding, Pizza, Schinkenbrot, Hackfleischklößchen, Reis … Die Liste war lang, aber ich hatte meine liebe Not, meine Speicher ständig zu füllen und die Energiekette während des Triathlons nicht abreißen zu lassen. Nur so konnte ich genügend Kraft tanken, um nach dem Radfahren die Laufstrecke von nicht weniger als drei Marathondistanzen zu absolvieren.
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