Er nahm auch in Hamburg in einem kleinen, billigen Hotel Wohnung, und dort schüttete er, nachdem er sich eingeschlossen, den Inhalt der Börse auf dem Tische aus. Er zählte fast viertausend Mark und zum Schlusse fand er, verdeckt von den Geldscheinen, ein kleines, auf Elfenbein gemaltes Medaillonbild in dünner Goldumrahmung.
Er betrachtete das Bild, sah ein Frauenköpfchen von bestrickendem Reiz, einen holdlächelnden Mund und mattgoldenes Haar in reicher, lockiger Fülle. Er sah goldbraune Augen voll Leuchten und erkannte, daß es dieselben Augen waren wie die des kleinen, häßlichen Mädchens, dem er den Vater genommen.
Lange, sehr lange betrachtete er das Bildchen, sein Blick wollte sich gar nicht davon lösen. Und dann wandte er es um und fand auf der Rückseite der Umrahmung eine Eingravierung: Er las: Meinem geliebten Manne, Franz Wittenborn, zu unserem ersten Hochzeitstag von seiner Eva.
Franz Wittenborn, so mußte der Tote heißen — ihm hatte er allerdings einen anderen Namen genannt — und sie, die blonde Lieblichkeit, die das Bildchen darstellte, war seine Frau gewesen und des kleinen Mädchens Mutter. Die Augen verrieten es, aber auch nur die Augen, denn das Mädelchen war häßlich, war ein graues Entlein.
An diesem Tage warf Heinz Hausmann die Silberbörse in die Alster. Er hatte dazu einen Spaziergang gemacht, weit hinaus.
Auf dem Rückweg überholte er eine einsame Spaziergängerin. Sie hatte ein etwas fremdländisches Aussehen, ihre Haut war tiefbrünett, ihr Haar blauschwarz, es war Herbheit und Frische um sie herum.
Kaum hatte er sie überholt, als sie ihm nachgelaufen kam. Ihr etwas fremd klingendes, aber reines Deutsch flog hinter ihm her: „Mein Herr, haben Sie nicht etwas verloren?“
Sie war stehengeblieben.
Sie hielt etwas hoch, ihm entgegen. Er erkannte das kleine Miniaturbild und begriff nicht, wie er es verloren haben konnte.
Vielleicht war es gefährlich, sich zu dem Gegenstand zu bekennen, aber er tat es doch, er liebte dies gemalte reizvolle Gesicht mit den großen, strahlenden Augen, dem sonnigen Lächeln.
Die Fremde, die einfach, aber gediegen gekleidet war, meinte mit leisem Vorwurf: „So etwas Wunderschönes darf man nicht verlieren.“
Er mußte lächeln. Wahrscheinlich glaubte sie an Herzensbeziehungen zwischen dem Original des Bildes und ihm.
Er sagte ein paar warme Dankesworte, steckte das Bildchen sorgfältig ein.
Die Fremde musterte ihn prüfend, fragte, ob es ihm recht sei, den Weg zur Stadt mit ihr gemeinsam zurückzulegen.
„Ich langweile mich“, bekannte sie offen, „und unterhalte mich gern einmal. Mein Schiff fährt erst nächste Woche von Bremerhaven, und ich wohne, nun so lange in Hamburg, weil es doch hier mehr zu sehen gibt.“
Er rückte an seinem Hut. Natürlich könne man den Rückweg zusammen machen.
Sie schritt leichtfüßig neben ihm her und plauderte dabei frisch und lebhaft. Er fand, es sah so appetitlich aus, wenn ihre weißen Zähne beim Sprechen zwischen den roten Lippen aufblitzten.
Sie erzählte: „Ich habe eine alte Dame, eine geborene Deutsche und die Frau unseres kürzlich verstorbenen Obercapataz, die fast vierzig Jahre im Ausland gelebt, zu ihrer Nichte nach Schlesien gebracht. Ein paar Monate war ich dort in der Nähe des Riesengebirges zu Gast, aber nun hielt ich es nicht mehr aus. Mir erging es wie der alten Dame, das Heimweh packte mich.“ Ihre schwarzen Augen blitzten. „Kreuzunglücklich fühlt man sich schließlich in der Fremde, weil man die Heimat vermißt, so vermißt, wie man es sich vorher gar nicht vorstellen kann. Ich hätte es nie geglaubt, wie einen das Heimweh schütteln kann. Wie ein böses, starkes Fieber ist das.“
Sie zuckte ein wenig die Schultern und ihr Blick hängte sich flüchtig in den seinen.
„Es gibt Menschen, die behaupten, wo es einem gut geht, da sei auch das Vaterland! Mir fehlt das Verständnis dafür. Es wäre allerdings engherzig, zu verlangen, jeder Mensch solle und müsse innerhalb der in seinen Landesfarben angestrichenen Grenzpfähle bleiben. Nein, man soll sich die Welt auch anderswo anschauen, wenn man das Geld dafür übrig hat oder sich die Gelegenheit dazu bietet. Besonders, wenn man Kaufmann, Künstler oder Forscher ist. Aber schließlich gehört man rechtzeitig wieder heim. Doch das sind Dinge, die man nur selbst fühlen kann.“
Sie endete mit der Frage, wie er darüber dächte.
„Ich weiß keine Antwort“, erwiderte er versonnen. „Ich liebe wohl die Heimat, aber ich habe sie noch nie verlassen. Erst wenn ich ein Weilchen draußen im Auslande bin, werde ich ein Urteil fällen können.“
Er dachte, was brauchte die Fremde um seine noch so herzlich unbestimmten Lebensziele zu wissen. Er schwankte ja sogar noch, welches von den Ländern jenseits der Wogen des Weltmeeres seine Zuflucht werden sollte.
Er schwankte in der Wahl zwischen Brasilien, Mexiko und Argentinien.
Er sann, es war die höchste Zeit, sich zu entscheiden, er mußte fort, die Schuld scheuchte ihn.
Die Fremde sah ihn fragend an.
„Sie redeten eben so vom Ausland, als ständen Sie im Begriff, es kennenlernen zu wollen. Hier, in dem Hotel, wo ich wohne, warten alle Gäste auf Schiffe, und es ist in Hamburg wohl überhaupt nichts Besonderes, Menschen kennenzulernen, die auf Schiffe warten. Ich glaube bestimmt, Sie gehören auch dazu. Darf ich wissen, wohin Sie zu reisen beabsichtigen?“
Er dachte, eigentlich war das eine müßige, neugierige Frage, und er wußte doch zugleich, dieses stark und aufrecht wirkende Mädchen kannte keine müßige Neugier. Die Frage entsprang lediglich einer wenn auch flüchtigen, so doch warmen Teilnahme am Geschick eines Mitmenschen.
Vielleicht buchstabierten diese klugen, dunklen Augen aus seinen Zügen heraus, daß er einer jener heimlichen Galeerensklaven war, die unsichtbare und doch schwere Eisenketten trugen und damit an der Schicksalsbarke festgeschmiedet waren.
Er wollte eine ausweichende Erwiderung geben, dennoch sagte er, als sei er dazu gezwungen: „Ich beabsichtige, mit einem der nächstfälligen Dampfer ins Ausland zu reisen, aber ich bin mir noch nicht einig, wohin. Ich will Erkundigungen einziehen, wo es sich erträglich lebt, wo einer Arbeit finden kann, der hier sein Brot verloren hat.“
Er fand, es klang täppisch und hielt ihren klaren Augen nicht stand.
Sie lächelte ein wenig.
„Also Sie sind ein Auswanderer, der in der Fremde sein Brot suchen will. Dios mio, ich kenne Sie nicht, mein Herr, aber wenn Sie kein anderer Grund wegtreibt als nur die Existenzfrage, dann rate ich Ihnen, hierzubleiben. Ich zum Beispiel möchte mich lieber in der Heimat zu Tode hungern, denn dann werde ich doch wenigstens in der Heimat begraben, als daß ich in der Fremde überreichlich satt würde.“ Der Ausdruck ihres energisch geschnittenen Gesichts wurde sehr ernst. „Aber ich glaube, Sie suchen die Fremde aus anderen Gründen, und die gehen mich nichts an. Meine Heimat ist Uruguay, mein Vater hat dort eine Estanzia und sein bester Vaquero bin ich, wie er selbst behauptet. Sie sehen, ich bin keine Salondame, und verübeln es mir hoffentlich nicht, wenn ich ein bißchen geradezu rede und so ganz selbstverständlich neben Ihnen herlaufe.“
„Uruguay?“ wiederholte Heinz Hausmann nachdenklich und wie fragend.
Es schien, er hatte das andere, was seine Begleiterin gesprochen, gar nicht gehört.
Sie sah ihn groß an, und er machte ein verlegenes Gesicht.
„Wenn ich ehrlich sein soll, ist es mir zwar, als hätte ich einmal etwas von Uruguay gehört, ja, aber es ist für mich ein vollkommen verschwommener Begriff. Ich habe keine Ahnung, wo es liegt.“
Sie atmete tief die frische Luft ein, die hier draußen in den Vorortstraßen noch morgenstark war.
„Sie haben demnach aber wenigstens einen verschwommenen Begriff. Jedoch habe ich während meines Aufenthalts in Deutschland viele Leute kennengelernt, die das Wort Uruguay überhaupt nie vernommen haben. Sie hielten es für eine Frucht oder einen Boxer. Man darf es wohl keinem verübeln, dieses Nichtwissen, doch selbst begreift man es kaum, wenn einem das Land, das so viele nicht einmal dem Namen nach kennen, Heimat ist. Und damit Sie Bescheid wissen, Uruguay liegt in Südamerika und ist Republik.“
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