Im Augenblick, da er kaum ausgesprochen, zuckte es ihm blitzgeschwind durch den Kopf, daß er am Schluß des Abends zu viele Liköre getrunken, das Zeug verleitete ihn zu Unbesonnenheiten.
Man soll Verzweifelte nicht reizen, und dieser schlanke Junge mit den etwas derben, braungebrannten Zügen befand sich in verzweifelter Stimmung.
Aber zu spät hatte er sich besonnen, denn schon reckten sich zwei nervige Hände nach der Silberbörse.
Er hielt die Börse mit der Linken und wehrte mit der Rechten Heinz Hausmann ab, achtete nicht mehr darauf, daß er ihn rücksichtslos an Schulter und Brust stieß, schließlich auch ins Gesicht.
Plötzlich ward ihm die Börse entrissen, er sah sie nicht mehr.
Wut raubte ihm die Besinnung, er schlug wie wahnsinnig auf den Jüngeren ein, bis der, zur äußersten Verteidigung getrieben, seinen Hals umspannte, fester und fester.
Mit gurgelndem Laut stürzte er zu Boden.
Schon kniete Heinz Hausmann neben ihm, blickte entsetzt in das fahle, verzerrte Gesicht des vor ihm Liegenden.
Abscheulich sah das Gesicht aus, wie das eines häßlichen, toten Fauns. Beuteliger bauschten sich die Tränensäcke unter den geschlossenen Augen, tiefer kerbten sich die Furchen ein, die von der spitzen Nase halbrund zu den Mundwinkeln liefen, und trübes, blaugraues Licht schien über den Zügen zu schwimmen wie Nebel.
Ich habe ihn erwürgt! durchschauerte es Heinz Hausmann, und Eiseskälte überströmte dabei seinen Körper.
Plötzlich ruckte sein Kopf hoch, er starrte auf die Tür, die sich eben mit leisem Quietschlaut öffnete.
Im Rahmen der Tür stand ein Kind im langen weißen Nachtgewand.
Es war ein dürftiges, blasses Mädelchen mit so großen braunen Augen, daß sie das Gesicht vollständig beherrschten, dünnes, steif zurückgekämmtes Haar schien farblos.
Heinz Hausmann erschrak vor dem bleichen Geschöpfchen, als ständen die Schergen vor ihm, um ihn als Mörder zu verhaften.
Er zitterte so heftig, daß es ihm unmöglich war, sich zu erheben.
Ein helles Stimmchen fragte leise: „Was fehlt denn dem Vater, ist er krank geworden?“
Er biß sich auf die Lippen in toller, mühsam beherrschter Erregung. O, mochte Gott ihm jetzt beistehen! Das Kind hatte ihm eben einen Weg zur Rettung gezeigt!
Er stammelte: „Dein Vater ist ohnmächtig geworden. Wir besprachen etwas Wichtiges und da fiel er plötzlich um.“ Rasch und dennoch stockend fügte er hinzu: „Befindet sich sonst noch jemand in dieser Wohnung?“
Das Mädchen kniete neben dem am Boden Liegenden nieder.
„Mein Vater und ich wohnen allein hier, Mutter ist doch tot und die Aufwärterin kommt nur tagsüber ein paar Stunden.“
Mit ihren überaus schmalen Ärmchen machte die ungefähr Zehnjährige einen Versuch, den Vater hochzuziehen.
Heinz Hausmann sprang empor, er mußte den Rettungsweg benützen.
„Quäle dich nicht ab, Kind, du kannst deinem Vater doch nicht helfen. Ich werde den Arzt rufen. Wo wohnt der nächste Arzt?“
Sie gab eifrig und aufgeregt Auskunft: „Drei Häuser von hier nach links, es ist eine Nachtglocke an dem Haus. Vater läßt die Schlüssel immer innen in der Korridortür stecken, wenn er nachts nach Hause kommt; der Hausschlüssel ist auch dabei.“
Er nickte. „Gut, gut, ich hole also den Arzt.“
Er bückte sich, horchte auf ein Lebenszeichen des am Boden Liegenden mit einer letzten, verzweifelten Hoffnung.
Kein Atemzug war zu erlauschen, stumm und starr blieb das verzerrte Gesicht.
Er ist wirklich tot! durchdrang es Heinz Hausmann mit grauenhafter Gewißheit. Er mußte alle Kraft anwenden, um es nicht laut hinauszuschreien.
Mörder! durchzuckte es ihn, und Mörder! schien ihm alles hier in dem dumpfen Zimmer zuzurufen.
Wie ein weißer, häßlicher Kobold mit wunderschönen Augen hockte die Kleine neben dem regungslosen Mann auf dem bunten, abgenützten Teppich.
Heinz Hausmann graute. Er flüsterte: „Ich hole den Arzt und komme sofort zurück.“
Er atmete auf, als er den Schlüssel in der Korridortür stecken fand. Am selben Messingring hing der Hausschlüssel. Nun konnte er sich retten.
Zum Glück hatte er Streichhölzer bei sich, sonst hätte er sich in dem fremden Hause nicht zurechtgefunden.
Endlich befand er sich auf der Straße. Ewigkeiten schien es ihm, waren vergangen, seit er das hohe düstere Haus betreten. Und in diesen Ewigkeiten war er zum Mörder geworden.
Er schritt über den Küstriner Platz, irgendwo schlug eine Uhr die dritte Morgenstunde. Er schleppte sich durch Straßen und über Plätze, bis er ein Auto fand. Er nannte als Fahrziel den Stettiner Bahnhof, dort in der Nähe lag das Hotelchen, in dem er wohnte.
Der Chauffeur schrie ihn an. „Sie sind woll besoffen, da drüben is ja der Stettiner Bahnhof!“
Er wies nach links hinüber.
Heinz murmelte: „Ich weiß nicht Bescheid in Berlin“, und zwang sich zu aufrechter Haltung. Erst als er sich in dem kleinen Hotelzimmer befand, sich unbeobachtet wußte, sank seine Haltung zusammen wie übermüdet.
Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, grübelte dem Geschehenen nach.
Er langte in die Tasche seines Jacketts und fühlte, als er sein Taschentuch suchte, die Börse, in der seine fünfhundert Mark sein sollten. Die fünfhundert Mark, um derentwillen er zum Mörder geworden.
Er öffnete die Börse und sein Blick drückte furchtbares Entsetzen aus, denn es fanden sich zwar die fünfhundert Mark, aber außerdem noch viel, viel mehr Geld, eine Menge großer Banknoten.
Heinz Hausmann erbebte vom Scheitel bis zur Sohle, denn nun war er nicht nur ein Mörder, sondern auch ein Dieb.
Er legte die Börse auf den Tisch, ein grauenhafter Ekel vor sich selbst würgte ihn im Halse.
Er drehte das Licht ab, warf sich angekleidet auf das Bett.
Vielleicht suchte man jetzt schon den Mörder. Vielleicht hatte das kleine Mädchen, nachdem es vergebens auf seine Rückkehr gewartet, Hilfe herbeigerufen, ihn beschrieben, ein kleiner Zufall konnte ihn verraten.
Er starrte in das Dunkel des Raumes, und ihm war es, als liege sein ganzes zukünftiges Leben in so dumpfes Dunkel eingehüllt wie das Zimmer.
Er mußte an die wunderschönen, traurigen und ernst fragenden Augen der Kleinen denken. Wie zwei goldbraune Sterne schienen sie aus der Düsternis auf ihn niederzublicken.
Armes Ding! sann er, und sein Herz war plötzlich über und über angefüllt von einem grenzenlosen, unsäglichen Weh. Er vermochte nichts, gar nichts mehr zu denken, wie in einem strudelnden Durcheinander ertrank die letzte Klarheit.
Aber zu schlafen vermochte er ebensowenig, dazu war alles in ihm zu wirr und aufgewühlt.
Als der Morgen die dunklen Schattentücher fortriß mit grauer Dämmerhand, warf er die Stumpfheit ab, sein Selbsterhaltungstrieb setzte doppelt stark ein.
Er wollte fort, weit fort, so bald wie möglich.
Er packte sein Köfferchen, mit dem er vorgestern in Berlin angekommen, um zu versuchen, von hier aus Stellung zu finden. Hinter sich hatte er ja sowieso alle Zelte abgebrochen, Verwandte besaß er nicht mehr, also fort, so weit es nur möglich, fort, fort.
Aber wohin?
Er dachte an Hamburg. Von dort aus fuhren viele Schiffe über das Meer nach dem großen Reiche Übersee. Irgendwo nach dorthin wollte auch er.
Der Inhalt der Silberbörse bedeutete seine Rettung. Ohne sie wäre er jetzt wohl verloren gewesen.
Er wunderte sich dann fast, daß sich niemand in dem kleinen Hotel um seine Abreise kümmerte, daß kein Polizeibeamter bereitstand, ihn zu verhaften, ehe er Berlin verlassen konnte.
Er saß dann im Zuge und fuhr der großen Hafenstadt entgegen.
Bisher hatte er nur mit spitzen Fingern in die Börse gefaßt, in Hamburg wollte er sie ins Wasser werfen, damit sie ihn nicht verraten konnte.
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