»Vielleicht habe ich zu viel Ehrfurcht vor den Jungs gehabt. Ich war auch schon ein ganz Guter, aber Klaus Fischer war einfach besser, das muss man anerkennen. Ich habe damals immer mit Nationalspielern trainiert, ich kenne den Unterschied zwischen Guten und Schlechten, man darf sich ja nicht überschätzen. Ich habe gesehen, bis hierhin geht’s und nicht weiter, ich bin ein durchschnittlicher Bundesligaspieler, aber international reicht es nicht, denn dazu fehlte mir diese hundertprozentige Einstellung, auch vom Kopf her, aber die muss man haben – und zwar immer. Es geht um die gesamte Körperpflege und Vorbereitung über die ganze Woche und nicht nur ein, zwei Tage vorm Spiel. Wenn ich daran denke, wie Klaus Fischer, Rolf Rüssmann oder Klaus Fichtel gelebt haben, wundert mich das nicht, dass sie auf so hohem Niveau gespielt haben. Die sind nach dem Training noch eine Stunde länger geblieben und haben Extraschichten geschoben, obwohl sie schon Nationalspieler waren. Von mir hat man so etwas nie gesehen.«
Eine Zeitlang versucht er es im offensiven Mittelfeld, hinter den Spitzen, auf der Position, auf der er schon als Kind am liebsten spielen wollte. Denn dort spielte schon sein Vorbild – Günter Netzer. Doch Michael kommt nicht aus der Tiefe des Raumes, er lauert am Strafraum auf den Ball. Im Schalker Mittelfeld ist auch kein Platz für ihn. Dass die Position hinter den Spitzen nichts für ihn ist, hat schon Berti Vogts erkannt, damals im U21-Lehrgang: »Andere laufen das Doppelte und Dreifache von dem, was du läufst«, hat ihm der damalige Nachwuchstrainer gesagt, »du gehörst vorne rein.«
Von der Bank muss Michael Tönnies mit ansehen, wie die Mannschaft immer tiefer in den Tabellenkeller rutscht. Drei Jahre ist es her, dass die Schalker noch Vizemeister geworden sind. Nun kämpfen sie gegen den Abstieg.
Einige Zeit zuvor hatte er ein Angebot von Eintracht Frankfurt. Doch sein Vater Werner hatte ihm geraten, beim FC Schalke zu bleiben. Er hatte gehofft, dass sich sein Sohn irgendwann bei ihrem Lieblingsklub durchsetzen würde.
Im Sommer 1981 wird sein Vertrag bei Schalke auslaufen, und der neue Manager, Rudi Assauer, hat mit ihm schon einen Gesprächstermin vereinbart. Klaus Fischer hatte bereits während der Saison seinen Abschied bekannt gegeben und wird zum 1. FC Köln wechseln.
Dann wäre endlich Platz für ihn, und wenn die Mannschaft absteigt, brauchen sie ihn, für einen Neuanfang, denkt er.
Mit der Erwartung zu bleiben und sich doch noch auf Schalke durchzusetzen, geht Michael Tönnies voller Zuversicht zu Assauer.
Tief in Oberfranken
(1981 bis 1982)
»Wer als Meister ward geboren, der hat unter Meistern den schlimmsten Stand.«
Friedrich Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg
Rudi Assauer will einen Neuanfang beim FC Schalke starten, und dieser junge Mittelstürmer, der sich in drei Jahren nicht durchgesetzt hat, der wird sich auch im vierten Jahr nicht durchsetzen – den braucht er nicht mehr, der kann gehen. Aber Assauer drückt es etwas vorsichtiger aus:
»Wir legen dir keine Steine in den Weg«, sagt er zu Michael Tönnies.
Doch Michael versteht genau, was das heißt – er soll sich einen neuen Klub suchen. Er ist enttäuscht, er hatte gehofft, dass er in der zweiten Liga eine neue Chance bekommt. Aber Assauer hat ja recht, merkt er – er wird sich nicht mehr durchsetzen, das ist ihm nun im Frühjahr 1981 auch klar. Seit sieben Jahren ist er beim FC Schalke, seit drei Jahren ist er Profi, neun Spiele hat er in dieser Zeit bestritten. Er soll weg, er muss weg – und er will weg. Er hat genug, er will endlich spielen.
Sein Konkurrent Klaus Fischer hilft ihm bei der Suche nach einem neuen Verein und vermittelt ihm ein Probetraining beim FC Basel. Doch die Schweizer entscheiden sich für Harald Nickel von Borussia Mönchengladbach. Als beim FC Schalke am vorletzten Spieltag die letzte Hoffnung auf den Klassenerhalt stirbt, ist Michael Tönnies schon nicht mehr im Kader. Einen neuen Verein hat er immer noch nicht.
Irgendwann klingelt daheim in Essen das Telefon. Ein Spielervermittler erzählt ihm, dass er einen Verein für ihn habe, einen Zweitligisten aus dem Süden, mehr könne er ihm noch nicht sagen, sonst könnte der Deal platzen. Michael Tönnies hinterfragt das nicht, so läuft das eben. Einige Wochen später erfährt er, wo es hingehen soll. Die Spielvereinigung Bayreuth will ihn verpflichten. Die Oberfranken waren 1979 knapp am Aufstieg in die 1. Bundesliga gescheitert und hatten ein Jahr später den FC Bayern München mit 1:0 aus dem DFB-Pokal geworfen. Nun wollen sie ihn, fürs offensive Mittelfeld! Mit seinem Vater fährt er die 500 Kilometer weite Strecke zum Vertragsgespräch. Dort angekommen, bekommt seine Vorfreude bald den ersten Dämpfer. Trainer Norbert Wagner stellt sofort klar: »Offensives Mittelfeld spielst du bei mir nicht. Dafür haben wir andere, du bist Stürmer, du kommst vorne rein.« Michael Tönnies zweifelt, sagt aber dennoch zu und unterschreibt bei den Schwarz-Gelben einen Einjahresvertrag.
»So weit weg von zu Hause und schon zu Beginn gab es die erste Enttäuschung, als mir gesagt wurde, dass ich nicht im Mittelfeld spielen sollte. Da hatte ich eigentlich schon keinen Bock mehr. Aber nach drei Jahren auf der Ersatzbank wollte ich endlich spielen, irgendwo in der zweiten Liga, egal wo. ›Scheiß drauf‹, hab’ ich mir gesagt, ›du beißt auf die Zähne und empfiehlst dich weiter. Du machst das eine Jahr und dann bist du eh wieder weg.‹«
In Bayreuth trifft er auf zwei alte Bekannte, Wolfgang Reichel und Friedhelm Schütte, mit denen er bei Schalke 1976 deutscher A-Jugendmeister geworden ist. Bis er in seine eigene Wohnung ziehen kann, wohnt er in einem Hotel außerhalb der Stadt. Dort gefällt es ihm, das Zimmer ist schön, das Essen ist gut. Die ersten beiden Auswärtsspiele der Bayreuther führen ihn in Richtung Heimat. Gegen seinen Jugendverein Rot-Weiss Essen setzt es eine 0:3-Niederlage. »Ihr Saupreußen, ihr!«, ruft Bayreuths Präsident Hans Wölfel nach dem Spiel den Essenern hinterher. Michael Tönnies steht daneben und schaut ihn verwundert an. Wölfel erschreckt, als er ihn bemerkt. Er schaut ihn an, als sei es ihm peinlich, sagt aber nichts. Michael auch nicht.
Grüner Hügel? Grüner Rasen!
Zwei Wochen später geht es zum Auswärtsspiel nach Krefeld-Uerdingen. Seine Schwester, sein Schwager und sein Onkel sind gekommen, um ihn wenigstens kurz zu sehen. Seine Eltern und sein Bruder Dirk sind nicht da, sie sind zu der Zeit im Urlaub – in der Nähe von Bayreuth. Gegen Bayer Uerdingen verlieren sie 2:3. Michael sieht Gelb und wird ausgewechselt. Nach dem Spiel bleibt ihm etwas Zeit, um mit seiner Schwester zu reden. Ein kurzer Plausch über Alltägliches, vor allem über zu Hause. Dann muss er zum Mannschaftsbus und zurück nach Bayreuth. Michael Tönnies kommt es vor wie eine Fahrt in die falsche Richtung.
Das Hotelzimmer am Stadtrand ist auf Dauer zu teuer für den Verein, sodass dieser ihm eine Einzimmerwohnung bereitstellt, irgendwo hinterm Hauptbahnhof. »Neuer Weg« heißt das Stadtviertel, das den Bahnhof umgibt. Genau das sollte Bayreuth auch für ihn sein, ein neuer Weg nach oben. Stattdessen verfestigt sich bei ihm das Gefühl, dass dies der falsche ist. Die einzigen Möbel in seiner neuen Wohnung sind ein Kleiderschrank, ein Tisch mit grüner Marmorplatte und eine Couch mit rauen Polstern in Grau-Beige. Noch trostloser ist sein Alltag. Das Training beginnt erst am Nachmittag, weil einige seiner Mitspieler vormittags arbeiten. Also schläft er morgens aus, schaut Fernsehen und macht sich dann mit dem Auto auf den Weg – nur wohin? Er weiß nichts mit sich und seiner Zeit anzufangen. Grüner Hügel? Grüner Rasen! Das interessiert ihn.
»Die Langeweile war das Schlimmste. Ich bin nicht der Kulturfreak, der sich die Museen oder das Bayreuther Festspielhaus angeschaut hat. Ich bin nur ins Dorf rein, ab in die Spielhalle und habe die Zeit totgeschlagen.«
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