„Gewiß,“ versicherte sie hastig. „Taufzeugnis und Geburtsschein, die Mündigkeitserklärung und auch —“
„Genug, genug,“ unterbrach er sie hastig, „so viel wirst du gar nicht benötigen.“
Er hatte recht. Trude war mit einer Art von Galgenhumor Lothar zur Polizei gefolgt und hatte alle Fragen nach den nötigen Daten so ruhig wie möglich beantwortet, obwohl ihr das Herz bis zum Halse schlug. Sie wunderte sich dann, daß sich alles so merkwürdig glatt abwickelte, so überaus glatt.
Lothar hatte vorher Paßbilder von ihr anfertigen lassen. Zum ersten Male unterschrieb sie ein behördlich gestempeltes Dokument mit dem Namen Charlotte Bürger. Dann erhielt sie vom Konsulat ihres neuen Heimatlandes das Visum. Und in diesem Augenblick war es ihr, als sei der Name rechtmäßig ihr Eigentum geworden. Es war wirklich alles viel leichter, als sie gedacht. Jede Angst war Torheit.
Wie im Rausch vergingen ihr die Tage bis zur Weiterreise. Sie hatte sich an Lothars ständige Gegenwart gewöhnt, ihr war es, als gehöre er zu ihr. Doch als sie wieder im Zuge saß, kam es abermals wie ein Erwachen aus tiefem Rausch über sie. Mit Lothar Bürger war die Komödie verhältnismäßig leicht gewesen. Sein Vater aber fühlte ihr vielleicht schärfer auf den Zahn, tat vielleicht Fragen, daran ihre Lügen zerbrachen, und dann folgte die Entlarvung. Schrecklich mußte dann Lothars Verachtung sein. Sie schauerte zusammen, wenn sie daran dachte.
Bodenbach, die Grenze, lag bereits hinter ihnen, da bekannte sie ehrlich: „Ich möchte am liebsten umkehren.“
„Warum?“ fragte Lothar.
„Mir bangt vor deinem Vater.“
Lothar lächelte beruhigend. „Früher war Vater ein bißchen das, was man einen Gewaltsmenschen nennt. Aber seit dem Tode meiner Schwester hat sich das geändert. Es ist, als wenn seine sonst kraftvolle Natur seitdem einen Sprung hat. Er ist viel weichherziger als früher, und du brauchst dich vor ihm nicht zu fürchten.“
Aber die Worte beruhigten Trude nicht. Je näher das Ziel der Fahrt rückte, desto aufgeregter ward sie.
Lothar sagte einmal zu ihr: „Eigentlich müßte dem Vater ein bissel vor dir bangen, weil er damals jede Hilfe für dich so schroff verweigerte. Du hast jedenfalls keinen Grund dazu.“
„O, wenn du wüßtest, welche raffinierte Betrügerin ich bin!“ dachte Trude Berger, und ihr war ganz jämmerlich zumute, als sie auf der kleinen Endstation der Reise das Eisenbahnabteil verließ.
Lothar half ihr beim Aussteigen, und danach sah sie, wie er einem großen, breitschultrigen Herrn, mit dickem, grauem Schnurrbart, die Rechte schüttelte, fühlte gleich darauf Lothars Finger an ihrer Schulter, empfand, daß sie davon förmlich vorwärts geschoben ward.
Scharfe Augen unter halbgeschlossenen Lidern blitzten auf sie nieder, eine stahlharte Stimme sagte laut: „Das also ist Charlotte! Ich habe sie mir eigentlich anders vorgestellt, mehr ihrer Mutter ähnlich.“
Trudes Blick senkte sich. Herrgott, was gäbe sie dafür, wenn sie jetzt hätte weglaufen dürfen!
Die Stimme Hubert Bürgers sprach weiter: „Bist du betrübt, Charlotte, weil du deiner Mutter nicht ähnelst? Ich bildete es mir ja nur ein, und du gefällst mir auch so, Mädel. Das genügt doch! Ich danke dir vor allem, daß du nun bei uns bleiben willst, und heiße dich herzlich willkommen.“ Seine Hand nahm liebevoll die ihre. „Komm, Mädelchen, jetzt fahren wir heim.“
Er zog ihren Arm unter den seinen, führte sie zum Auto. Der Schofför hatte sich inzwischen der Koffer bemächtigt. Trude durfte wieder einmal aufatmen, aber so ganz leicht und frei fühlte sie sich doch nicht. Vor Hubert Bürger würde sie viel mehr auf der Hut sein müssen als vor Lothar.
Das Auto fuhr durch hügliges Gelände, in der Ferne tauchten Häuser auf. Die Herren unterhielten sich, machten das junge Mädchen nur ab und zu irgendwie auf die Landschaft aufmerksam. Graue Steinfelsen wuchsen plötzlich steil und kahl gen Himmel.
„Das sind die Tyssaer Wände,“ erklärte Lothar, „allerlei Sagen geistern hier. Und dort drüben links, der viereckige Steinkasten mit dem Hintergrund von herbstlichen Akazienbäumen ist unser Wohnhaus.“
Trude nickte nur zu allem. Sie empfand trotz der Sicherheit, die sie sich einzureden suchte, den scharfen Blick des älteren Mannes unangenehm.
Das Auto hielt. Frau Mattausch, die Wirtschafterin, eine dunkelhaarige Vierzigerin, mit einem wohlwollenden Lächeln um den Mund, stand vor dem Gittertor, grüßte respektvoll die Nichte ihres Brotherrn. Sie zeigte Trude Berger ihre Zimmer, war ihr behilflich, den Koffer auszupacken.
Dabei plauderte sie: „Jesses, Maria und Josef, war das ein Jammer, als unser herziges Fräulein Lottchen starb! Der Herr ist rein irr geworden vor lauter Leid. Fräulein Lottchen war sein Herzblatt. Und so rauh und hart der Herr manchmal war, unser Fräulein hat nur ein bissel mit den Augen zu blinzeln brauchen, dann wurde er ganz weich und mitleidig. Und jetzt, zuletzt, war es schrecklich trübe und einsam hier, weil der Herr Lothar auch fort gewesen ist. Ach, ich bin so froh, daß Sie mitkamen! Sie haben so ein liebes Gesicht. Ich hoffe, nun wird unser armer Herr bald wieder froher werden. Er braucht das, er braucht das sehr.“
Trude Berger atmete auf, als die Redselige endlich das Zimmer verließ. Sobald sie allein war, schaute sie sich genauer in ihrem neuen Heim um. Die zwei ineinandergehenden Stuben, die man ihr angewiesen, waren sehr hübsch ausgestattet. Das Schlafzimmer war ganz in weiß und hellgrün gehalten, das Wohnzimmer in dunkelbraun und lila.
Sie wusch sich, bürstete über ihr Haar und blickte dann zum Fenster hinaus. Sie sah, nicht allzu fern, die grauen Felswände. Das sind die Mauern, hinter denen meine Vergangenheit liegt, durchschauerte es sie. Irgendwo, weit hinter den düsteren, grauen Felsenwänden, ruhte Trude Berger in einem Grabe, das niemand kannte. Sie, Charlotte Bürger, hatte mit der Nähmamsell, die für ärmliche Frauen und Kinder des östlichsten Ostens von Berlin armselige Garderobe zusammengestoppelt, nichts Gemeinsames mehr. Eine hohe, schroffe Mauer trennte sie von dem kleinen Nähmädchen, die so hoch und abgrenzend war wie die Tyssaer Wände.
Trude Berger kleidete sich um. Frau Dr. Wald in Dresden hatte darauf geachtet, daß bei der Wahl von Kleidungsstücken für sie nur Sachen in Frage kamen, die dunkel waren und möglichst den Charakter der Halbtrauer betonten. Die Tochter des Hauses war noch nicht allzu lange tot, und sie, die an ihre Stelle trat, war eine nahe Verwandte.
Trude warf ein loses, graues Kleid über, reich besetzt mit stumpfer, schwarzer Seide. Sie betrachtete sich im Schrankspiegel ihres Schlafzimmers, lächelte sich an und sann, wie vollkommen zufrieden sie jetzt sein würde, wenn sie nicht immer wieder an die scharfen Augen des Mannes hätte denken müssen, den sie fortan „Onkel“ nennen sollte.
Frau Mattausch erschien. „Fräulein Lottchen — nicht wahr, ich darf Sie doch so nennen? — Sie möchten zum Tee kommen. Die Herren warten schon auf Sie.“
Sie betrachtete das junge Mädchen wiederum wohlwollend und dachte dabei, allzu lange würde die neue Hausgenossin wohl nicht hierbleiben. So etwas Reizendes holte sich sicher bald ein Mannsbild weg. So eine hübsche Person gab es ja weit und breit nicht.
Ein behaglich erwärmter Raum tat sich vor Trude Berger auf. Es war das Speisezimmer, das, mit ererbten Möbeln aus der Biedermeierzeit ausgestattet, einen sehr anheimelnden, traulichen Eindruck machte. Lothar stand mitten im Raume unter dem Kronleuchter, er lächelte der Eintretenden entgegen, umfaßte mit einem Blick den Gesamteindruck ihrer Erscheinung.
Trude empfand das Lächeln wohltuend. Ihr war es, als werfe ihr Lothar damit ein Rettungsseil zu. Aufrecht ging sie auf den auf dem Sofa sitzenden Hubert Bürger zu, bot ihm die Hand.
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