„Gibst du mir den Salat?“, bat der Priester. Als Nele ihm die Schüssel reichte, berührten sich zufällig ihre Finger. Es war elektrisierend und steigerte sich zu einem warmen, wohligen Empfinden auf Neles Haut. Sie schämte sich in Gedanken für ihre unpassenden Gefühle. Schließlich hatte er ein Gelübde abgelegt. Trotzdem sollten dieser idyllische Abend und Nikolaos selbst ihr in den nächsten Tagen nicht mehr aus dem Kopf gehen.
Der Traum von Peristera kehrte zurück. Wieder stand Nele in der mittelalterlichen Kirche und beobachtete die Frau, als sie die Inschrift am Altar anbrachte. Die Männer zerrten Peristera wenig später gewaltsam hinaus, die Schreie der johlenden Menschenmenge drangen abermals in das heilige Gemäuer und hallten von den Wänden hernieder. Nele zog es nach draußen, um die Errettung vom Scheiterhaufen durch den Engel zu sehen. Aber kurz hielt sie inne und entschied sich doch anders. Sie ging zum Altar und sah zum ersten Mal klar die fremdartigen Zeichen vor sich, die Peristera in den Stein geritzt hatte. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund verstand Nele, was dort stand, obwohl sie sicher war, diese Sprache nicht gelernt zu haben. Nele, die Liste bringt dir kein Glück. Nikolaos ist deine Bestimmung, stand dort geschrieben. Vor Schreck taumelte sie zurück und fiel – das war unmöglich.
Schreiend wachte sie auf, ihr Herz raste. Keuchend versuchte Nele, zur Besinnung zu kommen. Was sollte das? So etwas konnte und durfte nicht sein, was sich ihr Unterbewusstsein da über alle Maßen Verrücktes ausmalte. So tat sie den Traum als Hirngespinst ab, etwas anderes war einfach nicht vorstellbar. Anscheinend war sie doch noch verwirrter, als sie angenommen hatte. Schließlich hatten sich viele Glücksmomente in ihrem Leben eingestellt.
Das Telefon läutete, Nele ging ran und eine aufbrachte Martha meldete sich am anderen Ende: „Nele, triff dich bitte nicht mehr mit Julian. Ich habe gerade erfahren, dass er beschuldigt wird, mehrere Frauen sexuell belästigt zu haben.“
Nele atmete tief durch, ehe sie antwortete: „Es würde mich interessieren, wer das behauptet.“
„Ich habe es von einer Nachbarin, deren Schwester hat eine Freundin und deren Ehemann ist mit einem Staatsanwalt befreundet, der den Fall zugeschrieben bekommen hat.“
„Martha, tut mir leid, für solch eine Gerüchteküche habe ich keine Zeit. Julian besucht mich gleich“, tat Nele die Worte ihrer Freundin ab.
„Nein, Nele, lass ihn nicht herein“, flehte Martha ängstlich.
„Das ist doch lächerlich. Meine Jungen sind bei Pater Nikolaos und Julian und ich machen uns einen schönen Nachmittag“, sagte Nele nachdrücklich und legte auf, als Julian auch schon an der Tür läutete.
Er bezauberte Nele erneut mit seinen zärtlichen Küssen. Diesmal ließ Nele es zu, dass er ihre Brüste leicht massierte, es war ein angenehmes Gefühl. Julian stöhnte ihr erregt ins Ohr: „Schlaf mit mir.“
Doch dafür war Nele noch immer nicht bereit, zu Sex gehörte mehr als nur anfängliche Schwärmereien. Sie machte ihren Standpunkt klar und weigerte sich erneut, sich zu früh für diese besondere Intimität zu öffnen. Doch Nele hatte dieses Mal die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Julians Augen blitzten wutentbrannt auf, er verbog blitzschnell Neles Hände und hielt sie fest. Sie schrie laut auf vor Schmerz, aber Julian kümmerte das wenig. Er versuchte, Nele die Hose auszuziehen, während er sie gewaltsam fest umklammerte. Nele war nun eindeutig klar, dass er sie zu vergewaltigen versuchte. Sie probierte panisch und mit aller in ihr steckenden Kraft, sich zu wehren, aber sie hatte keine Chance gegen ihn. Verzweifelt flehte sie Julian um Erbarmen an, doch der dachte gar nicht daran.
Genau in diesem Moment stürmte Nikolaos das Zimmer, riss Julian mit unmenschlicher Stärke in die Höhe und schleuderte ihn gegen die Wand. Dieser blieb bewusstlos am Boden liegen. Nele weinte, einerseits wegen des Schocks, andererseits aus Erleichterung. Der Priester hob sie behutsam hoch auf seine Arme und trug sie ins Badezimmer. Seine sanften Augen schienen ihr in die verletzte Seele zu schauen. Diese wohlige Wärme, die Nikolaos’ Körper an Nele abstrahlte, war ein wunderbares Gefühl, sie fühlte sich in Sicherheit. Nele wünschte sich, für immer in seinen Armen liegen zu dürfen, um diese Geborgenheit spüren zu können. Dass sie seine Nähe nie haben könnte, weil er Geistlicher war, gab Nele das erste Mal einen Stich ins Herz. Er war ihr Held und Retter, mehr durfte das nicht bedeuten. Er hatte sie nur vor Julian bewahrt, von dem sie nicht glauben wollte, dass er zu so was fähig war. Als Nikolaos sie absetzte, um die Polizei zu rufen, blieb eine schmerzhafte Leere in Neles Herz. Vielleicht war es doch ihre Bestimmung, ohne Partner zu sein, und sie wollte es einfach nicht wahrhaben. Schließlich durfte sie nicht undankbar sein, denn das, was sie mit Jan hatte erleben dürfen, durften nicht viele Menschen erleben – eine aufrichtige, ehrliche und intensive Liebe.
Die Sanitäter nahmen Julian im Rettungswagen mit, begleitet von der Polizei. Nele und Nikolaos mussten sich den langwierigen Befragungen der Beamten stellen und deshalb auf die Polizeistation mitkommen. Auf dem Revier stellte sich heraus, dass Nele mit einem blauen Auge davongekommen war, denn ihr Peiniger war tatsächlich bereits mehrfach wegen sexueller Belästigung angezeigt worden, aber jede dieser Frauen hatte im Nachhinein die Anzeige zurückgezogen. Es lief bereits ein Ermittlungsverfahren, ob er seine Opfer zusätzlich unter Druck setzte, ihnen zusätzliche Angst und Schrecken einjagte, damit sein gewalttätiges Treiben nicht bestraft wurde von öffentlicher Hand.
Nikolaos durfte anschließend mit Nele die Polizeistation wieder verlassen. Schließlich hatte er in Notwehr gehandelt. Martha hatte ihn Gott sei Dank auf den Plan gerufen und war an seiner statt bei Samuel und Jonas, damit der Priester der Mutter der Jungen zur Rettung eilen konnte. Nele hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie ihrer Freundin nicht geglaubt und Martha ihr trotzdem umgehend geholfen hatte. Sie würde sich bei ihrer Freundin entschuldigen müssen.
Am verwirrendsten aber waren im Moment die unwillkommenen Gedanken, die Nele über Nikolaos im Kopf herumschwirrten. Er war ihr Held, aber das war nicht das Problem. Ein unbeschreibliches Verlangen nach diesem Mann machte sich in ihr breit. Auch das noch, konnte sie sich nicht im Zaum halten? Ihr Herz meldete sich anscheinend zu den unpassendsten Zeiten zu Menschen, gegenüber denen sie keine Zuneigung empfinden sollte. War seit dem Tod ihres Ehemannes irgendetwas falsch gepolt in ihrer Gefühlswelt? Oder war es eine unbewusste Reaktion ihres Verstandes, um ihr zu zeigen, dass sie immer noch nicht bereit war, einen anderen Mann zu lieben?
Plötzlich vermisste sie Jan schmerzlich, wäre er doch nicht gestorben, hätte sie niemals über so etwas nachdenken müssen. Wieder einmal wünschte sie sich, dass er nie krank geworden wäre, aber Wünsche brachten einen im Leben leider nicht weiter.
Um von ihrem eigenen Gefühlschaos abzulenken, erzählte Nele Nikolaos von ihrem wiederkehrenden Traum von Peristera, natürlich ohne die Worte der Inschrift zu erwähnen.
„Ich kenne diese Geschichte. Die Kirche in meinem Heimatort ist der heiligen Peristera geweiht“, erklärte der Priester.
Nele starrte ihn fassungslos an: „Damit habe ich jetzt nicht gerechnet. Ich dachte, das sind Hirngespinste.“
Nikolaos redete einfach weiter: „Die Inschrift, die sie am Altar anbrachte, konnte bis heute keiner deuten. Das ist sehr geheimnisvoll und faszinierend für die Menschen, deshalb kommen viele, um das Geschriebene zu sehen. Warte, ich glaube ich weiß noch, was sie eingraviert hatte: Nele, die Liste bringt dir kein Glück. Nikolaos ist deine Bestimmung.“ Jetzt starrte der Priester Nele in peinlicher Stille an, ehe er sie fragte: „Welche Liste?“
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