Herr Bonfils stand auf dem Absatz im ersten Stock und notierte die Knaben, deren Wasserstiefel Schlammspuren trugen. Sie sollten nächsten Sonnabend um drei Uhr das spanische Rohr schmecken.
Als Ejgil vorbeikam, strich der Vorsteher dem Knaben mit freundlicher Hand durch die langen Locken.
„Ein neues Engelchen“, nickte er mild dem Religionslehrer der Schule, Pastor Krabbe, zu, der mit gutmütiger Grossvatermiene die Knaben vorbeigehen sah.
Der Knabe Petersen, der jetzt hinter Ejgil ging, fing die Bemerkung des Vorstehers auf und stach dem neuen Kameraden eine Stecknadel, die er zwischen zwei Fingern hielt, durch den Überzieher tief ins Gesäss. —
Ejgil hatte längst allein fliessend lesen gelernt, und das träge Buchstabieren der anderen Knaben selbst durch einen ganz einfachen Text wunderte ihn ziemlich. Er ahnte, dass die Schule ihn viel unnütze Zeit kosten würde. Er fühlte, dass die Dummheit der anderen etwas war, mit dem er rechnen musste. Vom ersten Tage an hasste er es, sich als zum grossen Haufen gehörig betrachten zu müssen.
In der ersten Rechenstunde wurde er von dem alten, sehr unangenehmen Lehrer geprüft, den die anderen Knaben den „Sauren Hansen“ nannten. Er war der einzige, der einen Spitznamen hatte, obwohl er seiner harten Ohrfeigen wegen gefürchtet war. Aber die Knaben merkten, dass der Saure Hansen auch unter den anderen Lehrern ein Auswurf war. Er war arm, verschlissen, hässlich und schmutzig, im Lehrerzimmer wurde er eben noch geduldet. Er rächte sich für die Verachtung der Kollegen an den Knaben, er hasste und wurde gehasst, er lebte auf Wegelagererart im Krieg mit allen, war böse und litt an Fallsucht, war unglücklich und hatte vier Kinder auf Freiplätzen in der Schule. Der älteste ging in den abgelegten Hosen des Vaters, die viele Jahre lang von diesem getragen und in der Schule bekannt waren, die jüngeren erbten die Hosen, wenn die Reihe an sie kam. Die Hosen sassen beständig auf einer Bank in der dritten Klasse, aber alljährlich unter einem anderen Gesäss.
Es war eine sehr vornehme Schule, und Herr Hansen stand, wie alle wussten, auf schwachen Füssen, behielt seine Stellung nur aus Gnade. Die anderen Lehrer waren fein, fünf oder sechs von ihnen mit dem Ritterkreuz ausgezeichnet; der Geschichtslehrer, Herr Carsten, hatte zwei königliche Prinzen unterrichtet, als sie klein waren. In Ejgils Klasse befanden sich nur Knaben, deren Eltern Rang oder doch jedenfalls ihre eigene Villa hatten: ein Baron Rönnow, Stammherr eines Gutes, der täglich auf einem Pony zur Schule kam; zwei Brüder Staffeldt, Söhne eines Hofmeisters; ein Kammerherrensohn und der kleine, dicke Dankvart, der Nachkomme eines Seehelden; einer, dessen Vater Künstler, aber doch zugleich Etatsrat war. Und nur einer hiess Petersen; sein Vater war nur Fuhrmann, aber Millionär, wie Petersen selbst sagte, und besass dreissig Hochzeitskutschen mit weissen Pferden.
Der Saure Hansen trat in seinen abgetretenen Zugstiefeln ein. Wie immer kam er eine Viertelstunde zu spät. Er legte einen Zigarrenstummel, sauer wie er selber, auf die Kante des Katheders. Sofort sah er den neuen Knaben; das war ein junges Hündchen von der Sorte süsser, lockiger Englein, die der Vorsteher, Herr Bonfils, unter den anderen zu seinen Lieblingen erkor. Er musste daher schleunigst gezähmt werden.
Er rief Ejgil an die Tafel.
„Na“, sagte er und sah von dem Finger auf, mit dem er sich in der Nase gebohrt hatte: „Du sagst, du hast allein Rechnen gelernt. Nun werde ich dich prüfen, und wenn es Lüge ist, dann weisst du, was es setzt!“ Er nahm sein langes Lineal und fuchtelte damit herum.
„Rechne also diese Aufgabe!“ Er schrieb mit Kreide ein paar Zahlen, die ihm gerade einfielen, auf die Tafel: 443×243.
Ejgil dachte einen Augenblick nach und sagte schnell: „Hundertsiebentausendsechshundertneunundvierzig.“
Er schrieb schnell die Zahl auf die Tafel und legte höflich die Kreide hin.
Herr Hansen sah ihn scheel an. „So, du versuchst zu raten, statt das Fazit auszurechnen. Streck die Hand aus!“ Und klatschend fiel das Lineal.
Die ganze Klasse lachte. Das gönnten sie dem Neuen.
Herr Hansen erhob sich, jetzt fühlte er seine Macht als Lehrer. Langsam und würdevoll schrieb er die Rechenaufgabe in Kolonnen hin, multiplizierte erst mit drei, mit vier, dann mit zwei, zog einen Strich, legte zusammen und schrieb das Fazit hin.
Rasch und mit tiefer Verachtung wischte er mit dem Schwamm Ejgils Fazit aus, ehe die Klasse sah, dass es dasselbe wie seines war.
„Ja, ich will dich rechnen lehren, das kannst du glauben! Aber du willst wohl ein Rechenkünstler sein, was? Mit langen Locken! Wunderkind in Samtbluse, was? Her mit der Hand!“
Wenn das Wetter kalt war, liess Herr Bonfils die Knaben antreten und rief: „Laufschritt!“ Dann mussten sie im Trab die ganze Pause in Schlangenwindungen oder im Kreis durch die Pfützen des asphaltierten Hofes.
Voran lief Herr Bonfils selbst und hielt in der rechten Hand eine kleine Papierfahne vom letzten Weihnachtsbaum der Schule. Er hatte viele Einfälle im Laufen, er konnte kommandieren: „In die Hocke!“ Dann hüpften sie wie Elstern über den Platz mit Herrn Bonfils an der Spitze.
Dann: „Ganze Schule — Marsch!“ Dann wieder: „Achtung! — Laufschritt!“ Und endlich wieder: „Elsternhüpfen!“ Herr Bonfils hüpfte elastisch, das war eine gute Bewegung nach dem Frühstück und tat dem Magen wohl, wie sich zeigte, wenn er zum Schluss der Pause mit seinem Regierungsblatt in der Hand auf das lange Haus in der Ecke des Hofes zuschritt, von dessen fünf Brettertüren eine seine private war.
Auch Ejgil musste hüpfen. Petersen war nun wieder auf seinem alten Platz als Fuchs, während Ejgil, der absichtlich vermied, sich auszuzeichnen — er war nach der ersten Rechenstunde durch Schaden klug geworden —, der Zweitunterste in der Klasse war. Petersen stand daher hinter Ejgil im Glied, immer bereit mit seiner Stecknadel. Er hing an Ejgil wie eine Klette, hatte ihn sich fast wie eine Schwärmerei ausersehen; er liebte es, diesen Knaben zu stechen, der wie ein Mädchen gekleidet ging; seine Augen suchten gefrässig nach allen weichen Stellen. — Er selbst war ein schwergliedriger, schläfriger Knabe, unbeweglich und faul, verzog nur seinen grossen, losen Mund, wenn er stach.
Er hatte diese Schmucknadeln in einem Samtfutteral, eine ausgesuchte Sammlung, sie besassen Köpfe aus farbigem Glas, und er schacherte mit ihnen in der grossen Pause, hielt Börse mit täglicher Notierung und Kursschwankungen ab, wie er es von seinem Bruder gelernt hatte, der bei einem Fondsmakler war. Die verschiedenen Nadelsorten hatten Namen: Riesen und Flöhe, Pfauen und Papageien.
Namentlich wenn die Schule Elsternhüpfen machte und Ejgil vor ihm hockte, hatte Petersen gute Gelegenheit, ihn zu stechen, so dass Ejgil bei einem Sprung aus dem Glied kam und Herr Bonfils, der gerade um die Ecke bog, ihn sah und böse wurde, obwohl Ejgil sein Lieblingsschüler war.
Ejgil sah bald ein, dass er sich schnell Frieden vor Petersen verschaffen musste, der ihn zu allen Zeiten störte. Die Schule war ihm an und für sich Hinderung genug in dem, was er lernen wollte.
Die Klassenzimmer waren mit einer Menge Dinge gefüllt, die das Gemüt der Kinder erbauen sollten. An allen Fenstern standen Topfpflanzen, die Kohlensäure ein- und Sauerstoff ausatmeten, um die Luft zu verbessern; auf den Blumentöpfen sassen kleine Kaninchen, Hunde, Katzen, Kanarienvögel, Dohlen, Wickelkinder, Seelöwen und kleine Engel aus Porzellan, um die Kinder über das Tierreich zu belehren und ihr Gemüt nach dem Höheren zu erheben; aber die Gegenstände durften nicht angerührt werden. Das Zerschlagen einer kleinen Katze oder eines Engels kostete am nächsten Sonnabend eine Portion spanisches Rohr. An den Wänden hingen teils Landkarten, teils Bilder aus dem Innern einer Gasanstalt, teils vom Himmelreich am Jüngsten Tage sowie von den alten Wickingern, die die Mönche in einem Kloster besiegten und ins Vaterland heimkehrten mit einer Menge von goldenen Leuchtern, Milchkannen und Kühen, mehrere von ihnen auch mit jungen Mädchen, die sie jedoch aus dem Arm trugen. Wer einen Tintenklecks auf die neuen Pulte machte, musste eine Stunde nachsitzen, und Ejgil polierte daher in jeder Pause das Pult dort, wo er gekleckst hatte, mit seinen Samtärmeln.
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