Überall in der Schule gab es Störche, sie hingen ausgestopft von den Decken herab und waren im Treppenhause abgemalt. Er verstand, dass den Kindern dadurch eingeschärft werden sollte, wie sie zur Welt kamen. Ihm war es jedoch recht gleichgültig, wie er gekommen war, wo er nun einmal da war. Die anderen Knaben unterhielten sich viel über diese Frage, und Ejgil merkte, dass die Erwachsenen nicht die Wahrheit darüber sprachen, wie man entstände. Aber die Erwachsenen sagten soviel, was nicht stimmte.
Es war ihm nur angenehm, dass man nichts in der Klasse anrühren durfte. Zu Hause war er gezwungen, nur des Scheines wegen mit seinen Sachen zu spielen, wenn die Tante sich zugleich mit ihm im Esszimmer aufhielt. Er hatte einen Speicher, an dem er kleine Fässer durch die Winde in einen Brauereiwagen auf- und niederheissen musste, wie er es die Leute eines Tages in einem Hinterhof in der Knabrogasse hatte tun sehen, als er den Onkel vom Bureau abholte; aber die Kerle sahen auch nicht so aus, als ob es ihnen Vergnügen machte, sie fluchten und schwitzten bloss.
Er hatte entdeckt, dass in den Regalen des Onkels Bücher standen, aus denen man viel besser Bescheid erhalten konnte als aus den Schulbüchern. Sie hatten täglich eine oder zwei Seiten Geographie oder Zoologie auf, aber die lernte er in kaum einer Viertelstunde und kannte dann jedes Wort. Er las daher die Bücher in ein paar Tagen durch, um es überstanden zu haben. Sie waren in einem Tone geschrieben wie: Kennst du Reineke? Er ist ein arges Raubtier mit spitzer Schnauze und buschigem Schwanz und liebt eine fette, leckere Gans sehr. — Aber unter Onkels Büchern befanden sich auch drei dicke Bände über alle Tiere des Erdballs, und in einem zwanzigbändigen Werk konnte man nach dem Buchstaben aufschlagen und alles finden, was man wollte. Es stimmte selten mit dem überein, was Lehrer oder Schulbücher sagten.
So erzählte Herr Bonfils, der den Knaben Geschichtsunterricht erteilte, viele Dinge, die ganz unwahrscheinlich klangen, die einander widersprachen oder offenbare Lügen waren. Es handelte sich meist um Könige, denen er Zeugnisse erteilte, ganz wie den Knaben und auch nicht gerechter. Da war namentlich ein König, den Herr Bonfils sehr liebte, weil er zwanzig Jahre auf einem Schlosse gefangen sass. Er hatte fast den ganzen Adel Schwedens auf dem Marktplatz in Stockholm geköpft, und einen Mann, der Marat hiess, nannte Herr Bonfils ein blutiges Ungeheuer, obwohl er, obendrein waffenlos und nackt, in seiner Badewanne ermordet wurde, was Herr Bonfils eine Heldentat nannte!
So war Geschichte: Bemächtigte sich ein König der Alleinherrschaft in seinem Lande, so war es eine Tat, gab er die Macht seinem Volke, so war es auch eine Tat. Selbst den Tieren erteilte Herr Bonfils Lob oder Tadel. Der Schakal frass Tiere, die schon tot waren, daher war er gemein, aber der Löwe mordete die Gazelle, ehe er sie frass, deshalb war der Löwe edel. Übrigens erzählte das Buch zu Hause ganz andere Geschichten vom Löwen, der sowohl feige wie heimtückisch war und sich im Notfall auch mit Aas begnügte.
Etwas ganz anderes war es mit der Bibel. Da erzählte Pastor Krabbe von Noah und von Saul und David oder den Makkabäern und vieles andere, aber das war etwas, das man nicht wissen, sondern nur glauben sollte, also etwas, das nie existiert hatte, ausser wenn man davon erzählte! „Glauben und Wissen sind je eine Welt für sich“, sagte Pastor Krabbe. Daher glaubte Ejgil an die Schöpfung in sieben Tagen, an Kain und Abel und Moses, wusste aber gleichzeitig, dass es nicht wahr war. Und das durfte man, wenn es sich um Religion handelte.
Pastor Krabbe war ein milder Lehrer, und wenn er sich mit schwarzem Käppchen und Brille, mit einem Kranz weissen Bartes um das Kinn auf die Pultkante setzte, Daumen drehte und kicherte, weil Petersen den Propheten Jonas einen der zwölf Apostel nannte, so war geradezu Sonnenschein in der kalten Klasse, die nach Norden zu nach einem Hinterhof hinaus lag und Mattglasscheiben hatte. Nur verstand Ejgil nicht, warum Pastor Krabbe sie Choräle singen liess. Die konnte man doch leise lesen, und er hasste es, sich im Chor mit zwanzig anderen zu befinden. Er bewegte jedoch die Lippen, um Pastor Krabbe nicht zu kränken.
Er achtete genau darauf, dass er der Zweitunterste in der Klasse blieb, Petersen aus dem Felde zu schlagen, war unmöglich. Aber er durfte die Lehrer nicht merken lassen, dass er zu Hause las und besser Bescheid wusste, sonst wurden ihm die Bücher von der Urzeit der Erde und der Abstammung des Menschen sicher verboten. Obwohl er die falschen Bücher der Schule auswendig kannte, gab er seine Antworten so schlau, dass er für einen äusserst schlechten Schüler gehalten wurde, und durfte daher unbemerkt tun und lassen, was er wollte.
Er war zu dem Schlusse gekommen, dass das, was die Erwachsenen, die Lehrer, auch Onkel und Tante, von Welt und Menschen samt der Natur, ja auch von Gott, glaubten — nur Eigenschaften waren, die sie selbst besassen, so wie jeder von ihnen seine besonderen Manieren hatte. Wie Herr Bonfils einen grossen Adamsapfel hatte, der immer über den Kragen hüpfte, wenn er böse wurde, so meinte er auch, dass ein König feiner als andere Menschen und dass Napoleon ein grosser Held war, weil er die Deutschen, Bismarck jedoch ein blasser Schurke, weil er die Franzosen besiegte. Was die Erwachsenen glaubten oder meinten, war etwas an ihnen selbst, gerade wie wenn sie niesten oder rülpsten, man musste sie es in Frieden tun lassen und durfte nicht kritisieren. Es war nicht passend, Bemerkungen zu machen, man musste nicken und sagen, dass man begriffe.
So war es auch eine Eigenschaft an Petersen, dass er mit Stecknadeln stach. Er freute sich selbst darüber, es war vielleicht unrecht, ihm die Freude zu verderben, aber es konnte nicht so weitergehen.
Petersen war ein grosser, starker Knabe. Und Ejgil sah ein, dass seine Arme zu kurz waren, um den andern ernsthaft zu treffen, wenn er wieder stach. Er schlug daher in Onkels Büchern über den menschlichen Körper und die verschiedenen Arten, zu schlagen, nach und fand viel Neues und Merkwürdiges über Muskeln und innere Organe.
Am nächsten Tage begann Petersen in der grossen Pause wie gewöhnlich, Ejgil mit krankem, hungrigem Ausdruck und bereitgehaltener Nadel zu umkreisen.
Ejgil ging aus dem Wege; der Stammherr und der Etatsratssohn kamen, um zu sehen, wie der Samtjunge gestochen würde.
Ejgil warnte Petersen. „Wenn du es versuchst, schlage ich!“ sagte er und schwang den rechten Arm.
Petersen warf ihm einen beinahe flehenden Blick zu. Er kicherte albern, geiferte lüstern und versuchte, sich ungeschickt hinter Ejgil zu schleichen, um die weicheren Teile unter der Bluse zu erreichen.
Die Knaben umstanden sie dicht, es war verboten, sich zu prügeln, und hier war Aussicht auf einen grossen Krawall. Der Seeheldenspross Dankvart grüsste die Parteien mit gedämpftem Zungenschnalzen; er trug selbst schon den vierten Tag ein grosses Plakat auf dem Bauche, auf das Herr Bonfils die Worte: „Das Lama spuckt“ geschrieben hatte, weil er einen Kameraden mit dem Munde besudelt hatte.
Ejgil schlug, aber wider Erwarten Petersens mit der linken Hand. Er gebrauchte die Handkante, um alle Knochen mit vollem Gewicht wirken zu lassen, und schwang den Arm ganz vom rechten Fussknöchel aufwärts, so dass sein ganzer Körper bei dem Schlage als Achse wirkte.
Er traf Petersen genau unter dem rechten Ohr. Petersen schnappte nach Luft, setzte sich auf den Asphalt und streckte sich zurück, er röchelte ein paarmal und wurde ohnmächtig. Gleichzeitig kam Herr Bonfils aus seiner privaten Tür mit einer Hälfte des Regierungsblattes in jeder Hand und auf seiner Flöte pfeifend, die er zwischen den Zähnen halten konnte.
Petersen wurde langsam von Sergeant Hansen wieder ins Leben gerufen, der die Anweisung zur Rettung Ertrunkener und anderer Scheintoter anwandte, sein Unterrichtsfach in einer Mädchenschule.
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