Das Kind spielte wie zuvor auf dem Fussboden. Es hatte eine Menge Streifen blanken, bunten Papiers zum Flechten; aber Ejgil flocht keine Lesezeichen. Er legte die Farben zusammen: grün neben gelb, lila neben rot.
Veronika blickte auf und sagte scharf zu dem Kinde:
„Siehst du nicht, Ejgil, wie die Farben sich beissen?“
Sie schüttelte bekümmert den Kopf: Der Knabe hatte keinen Farbensinn, wie sollte es ihm in der Welt ergehen!
Ejgil liess seine Streifen liegen, gerade jetzt hatte er ein Problem gelöst, über das er lange gegrübelt hatte: wie all diese Farben zusammengehörten, als ob sie verwandt miteinander wären. Man kam von Rot zu Blau über Lila und über Gelb zu Rot zurück. Es war, als wenn man Karussell fuhr!
Veronika hatte das Buch zur Hand genommen, das sie zurzeit las. Es wurde in einer mit Goldfäden gestickten seidenen Hülle verwahrt. Es hiess: „Tagebuch einer Gefallenen“ — die Sensation des Jahres.
Sanders kannte das Buch nicht, aber der Titel schreckte ihn ziemlich ab. Die Schwester durfte keinen Einblick in diese Welt erhalten, die er selbst täglich sah.
Beruhigt nahm er jedoch wahr, dass über Veronikas Gesicht nur Sonnenstrahlen glitten. Jetzt legte sie das Buch hin, wohl um milde über diese armen gefallenen Frauen zu urteilen. — Veronika liess denn auch jetzt in Gedanken diese ganze Reihe von Männern an sich vorüberziehen, von dem ersten, dem jungen Husarenoffizier und Grafen, bis zum Kellner des Tanzlokals, dem schwarzäugigen Italiener, der bald roh und brutal, bald tief melancholisch war. — Das Buch hatte sie tief bewegt. Nur eines erfuhr sie nicht: was die unglückliche, verlorene Ethelka Bauer im Buche gefühlt hatte, wenn all diese Männer —! Sie erhob sich, schellte dem Hausmädchen: „Wollen Sie Ejgil zur Ruhe bringen!“
Sie ging ins Esszimmer, um Silber zu zählen. Es stand auf dem Büfett, all das alte Familiensilber: Rechauds, Kannen, Zuckerschalen in Rokoko und Bowlen aus englischem Plated, und sie zählte die schweren silbernen Löffel und Gabeln, die, mit Seidenband zusammengebunden, in der Schublade lagen. Nichts fehlte, auch heute nicht. Sie liess die Finger über das kalte Metall gleiten. Es hatte für ihre Aussteuer sein sollen; die Töchter des Geschlechts hatten stets das Silber geerbt.
Im Büfettspiegel sah sie sich selbst. In dem schmalen Oval des Antlitzes standen die Augen dunkel in der Einfassung der helleren Lider. Sie versuchte zu lächeln, aber das Bild im Spiegel erschien ihr wie eine Fremde. Sie fühlte die Stube zellenhaft und schwer, abgesperrt durch die schweren Gardinen aus rostrotem Damast. Hinter diesen Gardinen hatte sie manches Mal halb verborgen über den kleinen Marktplatz der Garnison geblickt, wenn die Wache aufzog und der Wachkommandant, Leutnant von Lindholm, mit seinem Säbel zum Fenster hinaufgrüsste. —
Nie hatte sie Ejgil bewegen können, richtig mit Bleisoldaten zu spielen. Sicher wurde er auch kein Offizier, sowenig wie ihr Bruder, der doch durch seine Augenschwäche entschuldigt war, aber immerhin dank dem Einfluss der Mutter bei einer Hofdame Kammerjunker geworden war. Wie unendlich weit lag die Zeit zurück — diese zehn langen Jahre, seit sie zwanzig war, bis jetzt. Und wie konnte sie wissen, was aus Ejgil wurde. Welche Anlagen konnten nicht in einem solchen elternlosen Kinde schlummern, wenn auch seine Züge noch so sehr auf Rasse deuteten! —
Sie ging zum Bruder hinein, der in ein neues genealogisches Werk vertieft dasass. Er faltete Stammtafeln auseinander, rollte eine neue Welt auf. Es waren Aufklärungen über das alte Adelsgeschlecht der Daggert. Es war ihm ein Genuss, diesen Linien zu folgen, auf denen sich immer neue Schösslinge verzweigten und die einem unbekannten und bisher vergessenen, jetzt von den Toten erstandenen Ahnherrn entsprangen. Wie fruchtbar und üppig war das nach der Arbeit des Tages, der nur eine Reihe vernichteter Leben, verkrüppelter, erniedrigter Schicksale, Laster, Verbrechen und Schrecken, Blutschande, Raub, Mord und Unzucht war! Hier fand er nun einen bisher unbekannten Mann namens Bildt: Freibeuter während der Fehde des Grafen, schändete er der Sage nach seine eigene Schwester, liess seine dritte Frau einmauern, um sein Kebsweib zu heiraten, brannte und plünderte zwei Klöster, wurde später Reichsrat und Herr von acht Haupthöfen — ein Typ grossen Stils! Sanders erschien er schon jetzt wie ein guter, alter Freund! Wie traurig war es doch für Klein-Ejgil, dass er ganz ohne Stammbaum, ohne Familie, ja sogar ohne Eltern war!
Die Petroleumlampe leuchtete gedämpft hinter dem gelben Seidenschirm — wie glücklich war er doch, hier zu sitzen und nach der Traurigkeit und dem Grauen des Tages von all diesen Dingen zu lesen, während die Schwester dort in dem niedrigen Sessel träumte, hell, anmutig und fein, wie er sich immer ihr Schicksal gewünscht hatte, unberührt und doch reich durch das Kind, das er in ihre Arme gelegt hatte, damit ihr nichts auf der Welt fehlte!
Ejgil war im Bett. Die Tante hatte seinem Abendgebet beigewohnt, jetzt lag er ruhig und wartete, bis alles im Hause erloschen und still war. Er war nicht müde, er hielt sich ganz wach, indem er an feste, bestimmte Dinge dachte. Endlich war alles um ihn ruhig. Lautlos wickelte er sich aus der Decke und stand auf.
Er kannte das Dunkel und liebte es. Nie hatte er verstehen können, warum die Erwachsenen die Nacht mieden. Wenn es dunkel wurde, zündeten sie Licht an, wenn es Nacht wurde, hüllten sie sich in ihre Decken. Waren sie bange, wenn sie nichts sehen konnten? Sie sprachen leise und sagten weniger, wenn es dunkelte, sie konnten lauschen, als ob sie etwas herumschleichen hörten; die Tante konnte aufstehen und hinausgehen, um zu sehen, ob die Entreetür verschlossen war, und einmal hatte er sie mit einem brennenden Licht herumgehen und unter alle Betten des Hauses gucken sehen. Es war, als erinnerten sie sich, dass im Finstern alles Böse losgelassen ward, und dann wurde die ganze Welt ihnen wie ein grosser Wald voll wilder Tiere. Ja, sie fürchteten sich! Ejgil verstand nicht, warum. Er kannte das Dunkel ein und aus, es gab nichts darin, das schwer zu bewältigen war. Erst im Dunkel war man völlig allein, und alles entstand auf eine ganz neue und ganz andere Art als zuvor.
Er konnte den Drücker seiner Tür ohne das geringste Geräusch bewegen. Blossfüssig ging er auf den langen Korridor hinaus. Ohne die Hände auszustrecken, konnte er jede Ecke spüren, jede harte oder scharfe Kante, ohne etwas anzurühren. Er konnte die Wärme an der Wand fühlen: dahinter lagen Küche und Herd; er konnte mit den Fussspitzen tasten, wo die Schuhe vor Tantes Tür standen, und vermeiden, sie anzurühren und Lärm zu machen. Endlich fühlte er den Teppich des Wohnzimmers weich und warm unter seinem nackten Fuss.
Hier drinnen konnte er, wenn er wollte, alles tun, was am Tage verboten war. Er konnte einen Stuhl zum Kaminumbau rücken und die kleinen Porzellanfiguren eine nach der anderen in die Hände nehmen, mit den Fingerspitzen jeden Zug in den Gesichtern der kleinen Puppen, die Spitzen an den steifen Kleidern der Damen, die Degen und Gehenke der stolzen Offiziere fühlen. Er konnte sie miteinander reden, tanzen oder über die Marmorplatte promenieren lassen, wenn er wollte. Da war alles Silber auf dem Büfett, aber daran konnten seine Finger Spuren hinterlassen, die man am nächsten Tage sah, das konnte er sich nur durch das Dunkel denken; aber da war Tantes Schrein aus Ebenholz und Perlmutter, in dem Fächer, Glasperlen, kleine silberne Scheren und ein Messer mit vielen merkwürdigen Klingen lagen. Aber alles das war doch nichts gegen den Raum selbst: die Wände verschwanden, und es öffnete sich weit zur Welt draussen; alle möglichen Gestalten konnte er sich denken, die von draussen hereinkamen. Menschen und Tiere, Männer, die auf wilden Pferden angeritten kamen, mit einer Koppel Hunde auf den Fersen, alles ohne Laut. So war die Nacht!
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