Sie sass hier noch mit einem Kind in ihren Armen, dem letzten, einem Knaben. Er schlief an ihrer Brust, während sie stundenlang still dasass und über ihren Garten blickte. Selbst wenn seine Augen geöffnet waren, glich er einem schlummernden Kinde. Jetzt träumte auch er von den Gefilden, wo die anderen hinfuhren. Sie fühlte ihre Seele verebben und verbluten, bald war alles hingegeben, und das Leben war ohne Grund wie zuvor, Leid und Schrecken draussen ungelöst wie zuvor.
So sass sie da und wartete. Heulend und wild jagten die Köter im Garten umher, der Boden war löcherig, Grube an Grube, wie eine Stätte, wo Schakale hausen. Spülwasser war durchgesickert und bildete, schleimig und grün, stinkende Pfützen. Die Bretter des Hauses waren morsch von Schwamm und Feuchtigkeit, Ratten krochen dreist unter Lumpen und Kot in den leeren Stuben hervor, obwohl die Hunde sie jagten; langsam wie Schnee rieselte Gips vom Stroh der Decken herab. Im Kamin lag schwarzes, verkohltes Papier aufgehäuft, alles, was von Namen und Herkunft derer zeugte, die nicht mehr hier auf Erden waren.
Hier wurde sie gefunden, als die Polizei einbrach, todmüde eingeschlafen, das lebende Kind ganz wach in ihrem Arm.
Veronika Sanders sass auf der Erhöhung an ihrem Fenster, das auf die Dossering hinausging. Das Kind spielte zu ihren Füssen. So sass sie stets in der Stunde, ehe ihr Bruder heimkam, untätig, wartend, bis ein neuer Abschnitt des Tages begann und man sich zu Tische setzte. Sie las nie Zeitungen, höchstens ein Feuilleton und die Todesfälle. Alle Neuigkeiten, die sie hörte, brachte der Bruder mit, und sie liess sie gern in Vergessenheit geraten.
Sie war erst in den Dreissigern; die weissblonden, schweren Flechten lagen turbanartig um die hohe Stirn. Sie war stattlich und gross, glich einer Skulptur aus Marmor mit eingelegten Augen aus dunkelblauer Emaille. Ihre Schönheit war von Männern stets monumental genannt worden; unter den Kavalieren ihres ersten Tanzjahres hiess sie die Venus von Milo — die einzige Antike, die diese flotten Offiziere aus ihrem elterlichen Kreise gekannt hatten.
Ejgil, der Knabe, besah Bilder auf dem Kissen zu ihren Füssen. Obwohl er jetzt fünf Jahre alt war, kleidete Veronika ihn immer noch in Blusen, die nicht verrieten, ob er ein Knabe oder ein Mädchen war; sein Haar hing in langen, blonden Locken über dem Spitzenkragen.
In den Jahren, die unmerkbar vergangen waren, seit ihr Bruder und sie den Knaben zu sich genommen, hatte sie ebensowenig darüber nachgedacht, dass er grösser wurde, wie sie in früheren Zeiten erwartet hatte, dass ihren Puppen einfallen sollte zu wachsen.
Der Knabe hob den Kopf. Sie lächelte zerstreut:
„Nun, amüsierst du dich, Ejgil?“
Sie sprach oft französisch mit dem Kinde, sie fühlte, dass der französische Tonfall ihm gut stand, ihn noch mehr zu dem kleinen Fremdling machte, der, aus der Ferne verirrt, in ihr Heim gekommen war.
Ejgil wandte ein Blatt in dem Buche um, es war ein Bilderbuch: japanische Krieger waren im Kampf mit Drachen und Gnomen dargestellt. Er lächelte, um zu zeigen, dass er sich amüsierte. Aber er war enttäuscht. Bilder genügten seiner Phantasie nicht mehr. Wenn der Onkel oder die Tante Bücher lasen, so änderte sich ihr Gesicht, es ging wie eine Geschichte über ihre Züge. Aber Bilder standen still. Schloss er nur seine Augen, so konnte er sie leben sehen: die Pferde im Galopp, die Gnomen flüchtend, sich windend und sterbend. Aber sah er dann wieder auf das Bild im Buche, so war es ganz wie zuvor.
„Ich amüsiere mich gut“, sagte er, aber schliesslich fand er doch Mut genug, um zu fragen:
„Sind Bilder immer tot?“ Er schloss das Bilderbuch langsam.
Veronika sah beunruhigt auf Ejgil. Wie war das Wort „tot“ in die Phantasie des Kindes gekommen? Sie selbst hatte ihm nie etwas vom Sterben erzählt. Möglicherweise das Hausmädchen Eva! Der Tod war zudem etwas, von dem man sehr ungern sprach, am wenigsten zu Kindern, es verstiess gegen allen guten Ton, vom Tode und anderem Hässlichen und Traurigen zu sprechen, ebenso von Gott oder Dingen, die in Gesellschaft zu erwähnen sich nicht schickte. So war sie es von ihrem Heim gewohnt.
Sie entschloss sich jedoch, eine Art Antwort zu geben. Ihr fiel ein, was ihr Bruder einmal flüchtig aus seiner Zeitung erzählt hatte.
„Nein“, sagte sie. „Es gibt Bilder, die lebendig sind und sich bewegen. Das ist etwas, was man ganz vor kurzem erfunden hat. Ein Erfinder in Amerika namens Edison. Man guckt in einen kleinen Kasten und sieht einen Mann laufen oder springen.“
Der Knabe nickte, als wäre er zufrieden. Aber die Tante hatte auf etwas ganz anderes geantwortet, als er gefragt hatte. Das war das Merkwürdige: er selber konnte überall in den Stuben umherlaufen oder spielen, wie er wollte. Aber hier auf den Bildern war man nur ganz kurze Zeit mit dabei, konnte einem Reiter über die Brücke nach seinem Schloss am Flusse folgen; aber dann war auf einmal nichts mehr zu sehen, und der Reiter stand wie zuvor mitten im Sprunge still. — Doch jetzt gab er es auf, weiter zu fragen. Die Erwachsenen wussten also sehr schlecht Bescheid!
Er blickte auf und betrachtete die langen Reihen von Buchrücken in Onkels Bibliothek. Sicher konnten die Bücher, die die Erwachsenen lasen, viel mehr sagen, denn selbst der Onkel sass Abend für Abend da und las viele, viele Stunden, also Dinge, die die Erwachsenen noch nicht wussten, aber kennenlernen wollten!
Veronika blickte nach dem Kinde. Ejgils stets halb abgewandtes Lächeln machte sie unsicher und unruhig. Sie fand es seltsam verborgen. Es war natürlich, dass Kinder lachten, aber dieser Knabe lachte sehr selten. Er begnügte sich mit seinem fast unmerkbaren Lächeln.
Ihr Bruder kam gerade heim. Sie hörte, wie er den Schirm auf dem Vorplatz abstellte ... sie kannte den Schirm: Die losen Stangen rasselten — es war ein alter, unanständiger und undichter Schirm, den er sich im Bureau lieh — das wusste sie —, wenn er seinen eigenen vergessen hatte.
Jetzt trat er ein. Das Kind ging ihm vorsichtig entgegen, aber Veronika fand Ejgils Lächeln jetzt wärmer, als wenn sie selbst heimkam. Warum? Der Bruder küsste das Kind hastig mitten auf die Stirnhaare. Veronika ging ins Esszimmer und schellte mit einer kleinen Silberglocke, worauf das Hausmädchen, zierlich gekleidet, mit weissgestreifter Haube und die Schürzenbänder auf dem Rücken gekreuzt, das Essen hereintrug. Der ganze Stil war genau, wenn auch in kleinerem Format, wie im Elternhause der beiden Geschwister in der grossen Garnisonstadt, wo der Vater kommandierender General gewesen war.
„Ja,“ sagte Sanders und nippte mit Wohlbehagen an seinem Wasserglase, als wäre es der Rotwein, den die Schwester trotz ihres täglichen Protestes trinken musste, weil sie nichts vom Elternhause missen durfte, „ich hatte heute meinen Schirm vergessen. Und es regnete in Strömen.“
Er lächelte und nickte. „Aber natürlich kamen alle Referendare angesprungen und wollten mir die ihren aufdrängen. Um gut mit dem Chef zu stehen!“ Aber natürlich nahm er nichts von seinen Untergebenen an. Um der Disziplin willen! Und dies war ja der allgemeine Bureauschirm. Auf den besass er als Chef das Vorrecht!
Ein wenig scheu begegnete er den Augen seiner Schwester. Er hatte ihr erzählt, dass der Schirm einmal vor vielen Jahren während eines berühmten Prozesses von einer Exzellenz stehengelassen war. Die finstere Geschichte des Mörderschirmes sollte den Seelenfrieden der Schwester und ihr stets so sorgsam behütetes Heim nicht verunreinigen. Es war genug, dass Männer sich mit allen rohen und hässlichen Problemen des Lebens herumschlagen mussten, von seiner Gemeinheit und seinen Lastern besudelt wurden. Frauen hatten ein Anrecht darauf, sich Sinn und Hände rein zu erhalten, während die Männer eben ihre tägliche Ration von der Ekelhaftigkeit und dem Schmutz des Lebens mit in den Kauf nehmen mussten.
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