Weit hinter ihr schien das alles schon zu liegen, und doch kam sie nicht frei aus dem schmutzigen Netz, das Fred von Lindners Treiben auch um sie geworfen. Er war tot; aber sie mußte weiter leiden.
Sie seufzte tief. So widerlich war alles, was mit Fred von Lindner zusammenhing.
Sie dachte, ob nun wohl Ruhe werden würde, wenn Betty aus dem Hause wäre und die Frauen, die eben bei ihr gewesen, das Geld wieder hätten — das Geld, von dem auch der Tote keinen Vorteil mehr gehabt.
Sie erhob sich und faltete die Hände. Mochte doch nun Ruhe werden, damit sie ein wenig vergessen konnte, was sie so gern vergessen wollte. Sie sehnte sich so nach Ruhe und Frieden — so von ganzem Herzen sehnte sie sich danach.
*
Es war eine wundervolle Frühlingsnacht, als Margot von einem Geräusch erwachte.
Sie dachte erst, Betty nebenan wäre vielleicht des Kindes wegen aufgestanden und wollte sie wecken. Sie machte Licht, doch sah sie, die Tür nach dem Schlafzimmer Bettys und des Kindes war geschlossen.
Eben hörte sie wieder ein leises Geräusch, aber es kam von der anderen Seite — aus ihrem Ankleidezimmer.
Sollte es sich um Diebe handeln?
Sie verwahrte nebenan in ihrem Ankleidezimmer ihren sehr wertvollen Schmuck, der sich in der Familie seit langem vererbte. Sie faßte in ihre Nachttischschublade, wo ständig ein kleiner Revolver lag.
Auf bloßen Füßen schlich sie sich an die Tür und spähte durch das Schlüsselloch. Drinnen hantierte jemand mit Licht herum, mit einer elektrischen Taschenlampe.
Leise öffnete Margot die Tür, und in diesem Augenblick drehte sich ein Mann um, der Margot noch eben den Rücken zugewendet.
Margot sah mit angstgeweiteten Augen und furchtbarem Entsetzen in das Gesicht ihres Mannes, an dessen Grab sie vor kaum zehn Tagen gestanden!
Das Herz lag ihr wie ein schwerer, drückender Stein in der Brust vor Schreck und Grauen. Sie mußte sich an der Türleiste festklammern, um nicht zu Boden zu sinken.
Sie zitterte; kalte Schauer jagten über ihren Körper hin. Wie Beten drängte es sich auf ihre Lippen, und doch war sie nicht imstande, einen Laut hervorzubringen.
Sie starrte regungslos auf den Mann, der nur durch wenige Schritte von ihr getrennt war. Endlich hatte sie die Kraft, das Wörtchen ‚du‘ zu flüstern. Halb erstickt klang es — schaudernd und fragend.
Der Mann antwortete nicht; aber er näherte sich ihr, sein Gesicht schien sich zur teuflischen Fratze zu wandeln.
Mit einem unwillkürlichen Angstlaut wich Margot zurück, wendete sich und wollte fliehen. Doch in der Hast stolperte sie und brach in die Knie. Ihr war, als müsse sich im nächsten Augenblick eine Hand auf ihre Schulter legen. Sie fürchtete irgend etwas Schreckliches, verharrte regungslos und barg das Gesicht in den Händen.
Doch nichts geschah, gar nichts. Alles um sie herum war totenstill und blieb totenstill. Die kleine Taschenlampe des Mannes war erloschen. Aber aus ihrem Schlafzimmer drang der Schein der Ampel, die über ihrem Bette hing.
Margot wartete mit tollem Herzklopfen ein paar Minuten. Doch als alles still blieb, wagte sie endlich den Kopf ein wenig zu drehen und zurückzuschauen. Obwohl sie ein wenig aufatmete, blieb ihr Herzschlag doch ungestüm. Der Mann war verschwunden, und doch hatte sie nicht gehört, daß er sich entfernte.
Sie fürchtete zuerst, er hätte sich versteckt; doch weil alles nach wie vor still blieb, erhob sie sich zögernd, schaltete das Licht ein und durchsuchte das Ankleidezimmer. Aber außer ihr befand sich niemand hier. Die Tür nach dem Flur war von innen verschlossen, das Fenster war fest geschlossen.
An ihr vorüber, in ihr Schlafzimmer, konnte der Mann nicht gegangen sein. Sie hatte ja mitten auf der Schwelle gekauert, und er hätte über sie hinwegsteigen müssen. Das aber würde sie gemerkt haben, trotzdem sie das Gesicht mit den Händen bedeckte. Ohne eine Berührung wäre das nicht abgegangen.
Sie stand in erregtes Nachdenken versunken da und überlegte, auf welche Weise so leise und spurlos Fred das Ankleidezimmer verlassen haben konnte.
So leise und spurlos, als wäre er überhaupt nicht dagewesen! Sie murmelte vor sich hin:
„Fred ist doch tot!“ Obwohl ihr jede Silbe Qual und Grauen verursachte, mußte sie sich doch sagen, daß der Mann, den sie eben gesehen, tot war.
Sie schwankte auf ihr Bett zu, ließ sich auf dem Rand nieder, beide Hände gegen die Schläfen pressend. Sie zwang sich, niemand zu rufen, denn man würde glauben, sie sei wahnsinnig geworden, wenn sie behauptete, eben ihren toten Mann gesehen zu haben — ihn, der verbrannt war, und an dessen Grab sie gestanden! Seit zehn Tagen ruhte das, was von ihm übriggeblieben, schon auf dem Friedhof des kleinen Dorfes, und doch hatte sie ihn vorhin so gesehen, wie sie ihn im Leben gesehen — so, wie sie ihn geliebt und dann so sehr verachtet hatte. Sie drückte beide Fäuste auf den Mund, um nicht doch noch laut aufzuschreien.
Es war ja auch entsetzlich, was sie erlebt! Ein Toter kehrte zurück, kam zu ihr, sah sie an. Gab es Geister? Konnten Tote aus dem Jenseits wiederkommen?
Bis jetzt hatte sie noch zu sehr im Banne des Schreckens gelegen; nun aber ward sie sich klar darüber, wie schauerlich und seltsam ihr Wiedersehen mit ihm gewesen, der aus dem Totenreich den Weg zu ihr gefunden.
Sie drückte den Kopf in die Kissen und dachte verzweifelt: Was soll ich tun? Irgendeinem Menschen mußte sie doch anvertrauen, was ihr begegnet; sie konnte es nicht allein mit sich herumtragen.
Draußen hatte sich ein starker Wind erhoben, und von den Föhren am Ende des Parkes kam einförmiger Singsang der Zweige, die sich hin- und herbewegten, sich aneinanderrieben. Das pfiff und knackte eigen und unheimlich. Margot, deren Nerven aufs äußerste gespannt waren, sprang hoch und riß die Tür zu dem Zimmer auf, in dem Betty und das Kind schliefen.
Der Raum lag in tiefes Dunkel gehüllt; aber schon wurde das Licht einer Nachttischlampe eingeschaltet. Betty richtete sich in ihrem Bett auf, blickte der Eintretenden mit großen, wachen Augen entgegen. Sie hatte noch nicht geschlafen, hatte nur daran gedacht, daß sie nun bald das Kind verlassen mußte — und an ihren Haß gegen die blonde Frau hatte sie auch gedacht. Hatte überlegt, ob sie ihr nicht noch irgendwie recht wehtun könne.
Als Margot von Lindner jetzt so plötzlich und mit allen Anzeichen großer Erregung bei ihr erschien, begriff sie nicht, was das bedeutete.
Sie erhob sich und warf den auf einem nahen Stuhl liegenden Morgenrock über. Doch sie fragte nichts, wartete eine Anrede Margots ab. Aber diese sprach nicht, ging nur auf das Bettchen des Kindes zu, fast, als beabsichtigte sie, Klein-Hedi in ihre Arme zu reißen.
Doch Betty stellte sich ihr abwehrend entgegen, flüsterte:
„Lassen Sie Hedi schlafen! Es wäre Sünde, das Kind aus seinem guten Schlummer zu wecken.“
Da ließ Margot die erhobenen Arme sinken.
Sie hätte nun wohl irgend etwas sagen, hätte irgendeinen Grund erfinden müssen, warum sie das Kind hatte wecken wollen — aber sie war am Ende ihrer Kraft. Viel spukhafter und rätselhafter noch schien ihr jetzt ihr Erlebnis als vorhin. Kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn; ihr Gesicht war fahl und farblos. Ihr ward schlecht; eine schreckliche Übelkeit quälte sie.
Betty fragte leise: „Sind Sie krank, gnädige Frau? Soll ich Ihnen Tee kochen oder eine Limonade zurechtmachen?“
Obwohl sie Margot von Lindner haßte, schoß ihr der Gedanke durch den Kopf: Wenn sie sich jetzt der Gehaßten gefällig erwies, durfte sie vielleicht im Hause bleiben — bei dem Kinde, an dem sie seit dem Tode Fred Lindners mit fanatischer Liebe hing. Sie bat:
„Kommen Sie in Ihr Schlafzimmer, gnädige Frau, damit Klein-Hedi nicht aufwacht.“
Sie faßte den linken Arm Margots, und die junge Frau ließ sich ohne Widerspruch hinüberführen und zu Bett bringen. Sie zitterte jetzt wieder vom Kopf bis zu den Füßen.
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