»Ich weiß«, sagte ich. Und ich wusste es auf meine Weise auch, obwohl ich keine Kinder hatte, die davonlaufen konnten. Ende der sechziger Jahre, als ich in Eisen aus Vietnam zurückkam, war ich die letzten zwei Jahre, um nicht ins Zuchthaus Leavenworth zu kommen, als Inlandsspion für die Army unterwegs gewesen und bei den Treffen der Radikalen in Boulder, Colorado, herumgelaufen, und als ich fertig war, fuhr ich nach einer kurzen Zeit als Sportreporter nach San Francisco, um das Hasch und die schönen Zeiten auf eigene Rechnung zu genießen. Aber ich kam zu spät, war zu müde, um wieder zu gehen, zu faul zum Arbeiten, zu alt und bösartig für ein Blumenkind. Ich fand aber eine Art Beruf darin, Fortgelaufene zu finden. Ein paar Jahre lang war Haight-Ashbury in San Francisco eine Goldgrube, bis ich etwas fand, das ich nicht aushielt. Einen vierzehnjährigen Jungen, der in die Dielenbretter einer Wohngemeinschaft in der Castro Street hineinfaulte, siebenundvierzig Stichwunden in Gesicht, Händen und Brust. Das Fernsehteam war vor der Polizei an der Leiche, und Spaß machte das alles gar keinen. Da nicht mehr. Ich wusste Bescheid. Ich konnte Rosie in ihrem besten Strick-Hosenanzug und flachen Schuhen die Steigungen hinauf- und hinunterlaufen sehen, in jedes schmutzige Gesicht starrend, das daherkam, dann wieder auf das Foto in ihrer Hand blickend, nur um ganz sicher zu sein, dass sich nicht ihr kleines Töchterlein hinter strähnigen Haaren, Holzperlen, wunden Lippen und gebrochenen Augen verbarg.
»Es ist so lange her«, sagte ich zu Rosie, »so lange. Warum jetzt wieder mit dem Suchen anfangen?«
»Sie ist alles, was ich noch hab, junger Mann«, erwiderte sie leise. »Das einzige Kind, das ich nicht im Sarg geseh’n hab. Lonnie ist in Vietnam in die Luft geflogen, gleich nachdem sie weglief, und Buddy, den hat vorigen Sommer ein Dünenbuggy unten am Pismo Beach überfahren. Betty Sue ist alles, was ich noch hab, wissen Sie.«
»Wo ist ihr Papa?«, fragte ich und bereute es sofort.
»Ihr Papa? Ihr großartiger, gut aussehender, talentierter Papa?«, sagte sie und warf mir wieder einen scharfen, anklagenden Blick zu. »Das Letzte, was ich gehört hab, war, dass er unten in Bakersfield Alutöpfe auf Raten an Witwenweiber verkauft.« Sie ließ das einen Augenblick verklingen, dann fügte sie hinzu: »Ich hab den Taugenichts weggejagt, als Betty Sue in der Highschool anfing.«
»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich frage, warum?«
»Er hielt sich für Johnny Cash«, sagte sie und verstummte, als erkläre das alles. »Drecksnarr.«
»Ich verstehe nicht recht.«
»Jedes zweite Jahr ließ er sich volllaufen, räumte das Bankkonto ab und fuhr nach Nashville, um rauszukriegen, ob er als Gesangsstar groß verdienen könnt. Das Einzige, was der Volltrottel je herausbekam, war, wie lang Geld reicht, dann schleppte er sich heim und grinste wie ein Hund, der Eier auslutscht. Beim letzten Mal, als er das machte, tauchte er auf und war geschieden und kam in den Knast, weil er keinen Unterhalt zahlte. Das ist das Letzte, was ich von ihm geseh’n hab.« Sie grinste. »Gut sah der Kerl wirklich aus, aber wie mein Papa zu mir schon gesagt hat, als ich den Menschen heiratete: Der taugt so viel wie Titten an nem Eber.«
»Er hat von Betty Sue auch nie etwas gehört?«
»Nicht dass ich wüsste«, sagte Rosie. »Betty Sue hing immer an ihrem Papa, aber Jimmy Joe hing an sich selber und hatte für die jungen Männer zu viel übrig, also weiß ich nicht, ob sie ihm das je verziehen hat, aber ich glaube, er hätt es mir gesagt, wenn er was gehört hätt von ihr. Er weiß, dass ich sie such und hat die Hosen voll vor Angst. Ich nehm ihm das Geld für den ganzen Unterhalt nachträglich ab, und da glaub ich, er hätte was gesagt.« Dann verstummte sie und sah auf mich hinunter.
»Also, was meinen Sie?«
»Wollen Sie die Wahrheit hören?«
»Keinen Ton. Ich möcht, dass Sie ein paar Tag nach meiner kleinen Tochter suchen«, sagte sie, dann gab sie mir ein Bündel Geldscheine, das sie die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte.
»Nur bis der Große aus dem Krankenhaus kommt, länger nicht.«
»Ich vergeude meine Zeit und Sie Ihr Geld«, sagte ich und versuchte, ihr die feuchten Scheine zurückzugeben.
»Es ist mein Geld«, meinte sie schnippisch. »Ist es vielleicht nicht gut genug, dass man Ihre Zeit damit bezahlt?«
»Und wenn sie nicht gefunden werden will?«
»Hat der Große Sie gebeten, dass Sie ihn aufspüren?«, fragte sie.
»Sie könnte tot sein, wissen Sie«, sagte ich, ohne darauf einzugehen. »Haben Sie daran schon gedacht?«
»Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht dran denk«, erwiderte sie. »Aber ich bin ihre Mutter, und innerlich weiß ich, dass sie irgendwo am Leben ist.«
Da ich nie eine Methode gefunden hatte, mit mütterlicher Mystik fertigzuwerden, schüttelte ich den Kopf und ging zum El Camino hinüber, um meine Notiz- und Quittungsbücher zu holen, das Bündel Geld vorsichtig in der Hand haltend wie eine Zeitbombe. Dann ging ich zurück, stellte Fragen, machte Notizen und zählte das Geld – siebenundachtzig Dollar.
Rosie nannte mir den Namen des Freundes, der jetzt Anwalt drüben in Petaluma war, von Betty Sues Lieblingslehrer, der in Sonoma immer noch Schauspiel lehrte, und von ihrer besten Freundin, die einen Juden namens Greenburg oder Goldstein, Rosie wusste es nicht genau, aus Los Gatos geheiratet hatte, geschieden war und jetzt angeblich die Graduate School in Stanford besuchte. Details, Details, Details. Dann fragte ich, was für ein Mädchen Betty Sue gewesen sei.
»Das werden Sie sehen, wenn Sie mit den Leuten reden«, gab sie dunkel zurück. »Ich lass Sie das selber herausfinden.«
»Auch gut«, sagte ich. »Weshalb ist sie weggelaufen?«
Nach kurzer Überlegung sagte Rosie: »Ich hab mir lange die Schuld selber gegeben, aber jetzt nicht mehr.«
»Woran?«
»Ich wohn in einem Wohnwagen hier hinten«, sagte sie, »und einmal nach der Scheidung von Jimmy Joe erwischte mich Betty Sue mit einem Mann im Bett. Sie hat das sehr schwergenommen, aber ich glaub jetzt nicht mehr, dass sie deswegen weggelaufen ist. Und manchmal hab ich geglaubt, sie ist fortgegangen, weil sie sich für zu gut hielt, hinter einer Bierkneipe zu wohnen.«
»Gab es zwischen Ihnen Streit, bevor sie fortging?«
»Wir hatten keine Streitereien«, sagte Rosie stolz. »’s gab nix zu streiten. Betty Sue machte, was sie wollte, seit sie ein kleines Mädel war, und ich hab’s zugelassen, weil sie so brav war.«
»Könnte sie schwanger gewesen sein?«
»Könnte sie, aber ich glaub, deshalb wär sie nicht weggelaufen. Aber das weiß ich auch nicht genau.« Dann fügte sie beschämt hinzu: »Wir sind uns nicht nahegekommen. Nicht wie ich mit meiner Mama. Ich musste den Laden führen, weil Jimmy Joe das die meiste Zeit nicht tun wollte, und wenn er’s machte, spendierte er mehr Bier, als er verkauft hat. Irgendeiner musste das Geld verdienen und sich um alles kümmern.« Sie legte wieder eine Pause ein. »Ich geb mir wohl immer noch die Schuld, aber ich weiß nicht mehr wofür. Vielleicht nehm ich es ihr auch immer noch übel. Sie wollte immer mehr haben, als wir hatten. Sie sagte nie was – sie war lieb –, aber ich konnte spüren, dass sie mehr wollte. Ich wusste einfach nie, wovon. Vielleicht können Sie es mir sagen, wenn Sie sie finden.«
»Falls ich sie finde«, sagte ich und gab ihr eine Quittung über siebenundachtzig Dollar.
»Ist es genug?«, fragte Rosie. »Ich hab’s nicht zählen könn’.«
»Mehr als genug.«
»Wenn es mehr macht, geben Sie mir eine Rechnung, verstanden?«, sagte sie.
»Es ist jetzt schon zu viel«, erwiderte ich. »Ich rede mit diesem Albert Griffith drüben in Petaluma und mit diesem Mr. Gleeson hier, und vielleicht kann ich Peggy Bain erreichen, dann bringe ich das Wechselgeld. Aber ich sage Ihnen gleich, das Geld ist zum Fenster hinausgeworfen.«
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