Die protestantischen Einwanderer in Glasgow finden sich schon deshalb besser zurecht, weil sie die Nachfahren jener Schotten sind, die sich im 17. Jahrhundert im Zuge der Plantation in Ulster niederließen. Zwischen den westschottischen Protestanten und ihren Glaubensbrüdern in Ulster existieren über viele Generationen hinweg familiäre Beziehungen. Außerdem ist ihr Glauben mit dem der schottischen Mehrheitsgesellschaft kompatibel.
Im Vergleich zu Liverpool, wo es bereits sehr frühzeitig zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen die katholischen Iren kommt, halten sich aber in Glasgow die Feindseligkeiten zunächst in Grenzen. Dies liegt zum einen daran, dass die Zahl der irisch-katholischen Einwanderer in Liverpool noch größer ist als in Glasgow und ihre Anwesenheit somit spürbarer. Zum anderen befindet sich die schottische Industrie zum Zeitpunkt der Einwanderungswellen auf dem Höhepunkt ihrer Expansion und ist deshalb in der Lage, ein größeres Potenzial an billigen und ungelernten Arbeitskräften zu integrieren.
Trotzdem werden auch in Schottland die Neuankömmlinge als politische, soziale und kulturelle Herausforderung betrachtet, die – aufgrund ihrer Militanz und radikalen Ideen – das einträgliche Bündnis mit England gefährden. Und während in Liverpool das Sektierertum mit der Zeit weitgehend verschwindet, hält es sich in Glasgow hartnäckig. Hierfür gibt es mehrere Gründe:
Die Vorherrschaft der Presbyterianer im protestantischen Lager, die gegenüber dem Katholizismus unversöhnlicher sind als die Anglikaner. Die anglikanische Church of England lehnt zwar die Hierarchie der katholischen Kirche sowie die Position des Papstes als Stellvertreter Gottes auf Erden ab, behält aber Elemente des katholischen Gottesdienstes bei. Die Church of Scotland repräsentiert mit ihrer presbyterianischen Organisation und ihrem calvinistischen Glauben einen kulturell schärferen Bruch mit dem Katholizismus als die Church of England.
Die geografische Nähe Glasgows zur irischen Provinz Ulster und der von dort betriebene Konfliktexport.
Die enge Verbindung zwischen den Werften in Belfast und Glasgow. Die Belfaster Werften, auf denen vornehmlich Protestanten arbeiten, sind das industrielle Rückgrat des militanten Loyalismus und anti-katholischen Sektierertums. Zunächst gehen Glaswegians nach Belfast, um dort den Schiffbau zu erlernen. Später übernimmt das Belfaster Unternehmen Harland & Wolff Werften am Clyde, bringt seine anti-katholische Einstellungspraxis und protestantische/loyalistische Facharbeiter mit, die nun weiteres Öl ins sektiererische Feuer schütten.
Ein Freimaurertum, das in Glasgow und Schottland stärker in der Arbeiterschaft verankert und anti-katholischer orientiert ist als anderswo auf der britischen Insel.
Die anhaltenden Anfeindungen durch das protestantische Sektierertum und der Wunsch, sich eigene kulturelle und soziale Institutionen zu schaffen, lassen im irisch-katholischen Milieu Glasgows schließlich auch das Projekt eines eigenen Fußballklubs entstehen. Der Anstoß dazu wird aus Edinburgh kommen, wo man der Entwicklung in Glasgow ein paar Jahre voraus ist.
*Berühmtester jüdischer Glaswegian ist Mark Knopfler (Dire Straits). Vater Erwin Knopfler war ein ungarischer Jude, Architekt und Schachspieler, der 1939 als Antifaschist aus Ungarn floh.
KAPITEL 2
Der Klub der Einwanderer
Der Fußballklub Celtic wird im November 1887 gegründet. Initiator ist der aus Irland stammende Mönch Walfrid, der mithilfe eines Klubs Geld für seinen „The Poor Children’s Dinner Table“ einspielen möchte. Celtic kann von anderen Klubs gute Spieler holen und steigt binnen kurzer Zeit zum fußballerischen Repräsentanten der irischstämmigen, katholischen Community in Schottland auf.
Celtic ist einige Jahre jünger als seine langjährigen Lokalrivalen Rangers, Queen’s Park und Partick Thistle. Bereits 1867 wird der Queen’s Park Football Club in Glasgow gegründet; er ist heute der älteste noch existierende Fußballklub in Schottland. Der Klub gilt als Erfinder des „passing game“ (Flachpassspiel), das später auch auf dem Kontinent Verbreitung findet. Seine Heimstätte ist das Nationalstadion Hampden Park, das seinen Namen John Hampden (1594–1643), einem Führer der englischen bürgerlichen Revolution, verdankt.
Queen’s Park ist ein nobler Klub und feiert auch noch heute das Amateurideal mit dem Motto: „Ludere Causa Ludendi“ – „to play for the sake of playing“. Im Laufe der 1990er Jahre wurden die harschen Amateurbestimmungen allerdings gelockert. Seither dürfen auch Ex-Profis und von Profiklubs ausgeliehene Spieler für Queen’s Park spielen. Aktuell spielt der Klub in Schottlands dritter Liga. Bei seinen Heimspielen verlieren sich meist nur noch 800 Zuschauer im riesigen Hampden Park. Die Arena bietet heute 52.000 Plätze und war vor dem Bau des Maracanã in Rio de Janeiro (1950) mit einem Fassungsvermögen von 150.000 Zuschauern das größte Stadion der Welt.
Als sich Schottland und England am 30. November 1872 im West of Scotland Cricket Ground von Partick (seit 1912 ein Glasgower Stadtteil) zum weltweit ersten offiziellen Fußball-Länderspiel überhaupt treffen, besteht das schottische Team ausschließlich aus Spielern von Queen’s Park. 4.000 Zuschauer sehen ein torloses Remis.
Ebenfalls 1872 gründet sich in Glasgow der Rangers Football Club. Zunächst ist der Klub nicht protestantischer als viele andere im protestantischen Schottland. Sein Rückgrat bilden die Werften in den südlich des Clyde gelegenen Stadtteilen Ibrox und Govan. 1876 folgt der Partick Thistle Football Club, seit vielen Jahren die Nummer drei im Glasgower Fußball. Seit 1909 spielt der Klub nicht mehr in Partick, sondern in der Maryhill-Gegend der Stadt.
Hibernian
Auch unter den „irisch-katholischen“ Klubs in Schottland ist Celtic nicht der erste. Die Städte Edinburgh und Dundee waren eher dran als Glasgow. Zwar sind die Gaelic Games (Football und Hurling) die eigentliche nationale Disziplin der Iren, aber in Schottland entscheiden sich die irischen Einwanderer in ihrer übergroßen Mehrheit für Soccer – mit Folgen für den sozialen Charakter des Spiels. Die kickenden Iren gehören in der Regel zur Unterklasse der Gesellschaft und forcieren damit die soziale Ausbreitung des zunächst elitären Sports, die in Schottland schneller erfolgt als in England. In Glasgow hat das Spiel keine ernsthafte Konkurrenz. In der Industriemetropole am Clyde frönen nicht nur die Arbeiterschaft und das Kleinbürgertum dem Fußball, sondern auch die mittleren und höheren Schichten. Rugby und Golf spielen hier kaum eine Rolle.
Am 10. Oktober 1875 wird in Edinburgh der Hibernian Footballclub gegründet, als der erste irische Klub in Schottland. Hibernia ist der lateinische Begriff für „Irland“, „Hibernian“ steht für „The Irishman“. Gründer ist der aus Ballingarry in der irischen Grafschaft Limerick stammende katholische Geistliche Edward Joseph Hannan, der die St-Patrick’s-Gemeinde im Stadtteil Cowgate führt. In diesem Stadtteil, der auch „Little Ireland“ genannt wird, leben auf engstem Raum etwa 25.000 Iren. In der St Patrick’s Church in der Cowgatestreet, die im unteren Teil von Edinburghs Altstadt liegt, erinnert seit dem 17. März 2013 (am 17. März, dem St Patrick’s Day, feiern Irland und die irische Diaspora ihren Nationalheiligen Patrick) eine Messingtafel an die Gründung von Hibernian.
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