Die Befürchtungen erweisen sich in jeder Hinsicht als zutreffend. Denn die irische Community begnügt sich nicht mit dem Kirchgang, sondern engagiert sich auch für katholische Emanzipation und irische Belange. 1823 gründet sich in Glasgow eine Glasgow Catholic Association, die ausschließlich aus irischen Einwanderern besteht und mit dem anti-englischen Nationalismus in der Heimat sowie dem Widerstand gegen die englischen Großgrundbesitzer, die Landlords, sympathisiert. Glasgows Iren folgen Daniel O’Connell, dem Vater der irisch-katholischen Emanzipationsbewegung, der in den 1820ern eine Kampagne für die Gleichbehandlung der Katholiken in Irland und im Vereinigten Königreich startet. 1829 sieht sich König George III schließlich genötigt, den Roman Catholic Relief Act zu unterzeichnen, der viele der erheblichen Beschränkungen für die römisch-katholische Bevölkerung aufhebt. Nun dürfen auch Katholiken ins britische Unterhaus einziehen.
In den protestantischen Gebieten Ulsters und in Schottland ist die Opposition gegen die Emanzipation der Katholiken besonders groß. Hätte es ein Referendum über den Roman Catholic Relief Act gegeben, dann hätte Schottland mit einem klaren „Nein“ gestimmt.
Glasgows Bischof Scott sieht sich genötigt, von der Kanzel aus die fehlende Loyalität seiner Schäfchen gegenüber dem britischen Staat und ihre Unterstützung irischer Geheimbünde zu verurteilen. Der Kirchenmann beschimpft die eigene Gemeinde als ignorant, schmutzig und ungehobelt.
Aber die Bekämpfung pro-irischer Manifestationen ist bei weitem nicht so erfolgreich wie später in Liverpool, das ebenfalls eine große irische Einwanderergemeinde besitzt, weshalb die Stadt am Mersey auch „Irlands heimliche Hauptstadt“ oder „Englands Dublin“ genannt wird. Auch in Liverpool entsteht zunächst ein irischer Katholizismus. In den 1890ern gibt es hier mindestens neun irische Fußballklubs, die Celtic, Celtic Rovers, Liverpool Celtic, Liverpool Hibernian oder 5th Irish Club heißen. Aber Ende der 1890er existiert keiner mehr davon. Liverpools katholische Hierarchie begrüßt die Neubürger als Katholiken, aber nicht als Iren. Um im anglikanischen England wieder als Katholiken respektiert zu werden, versucht man, den Neubürgern ihre irische Identität auszutreiben und sie zu loyalen britischen Bürgern zu erziehen.
In Liverpool ist die „De-Nationalisierung“ der Einwanderer also erfolgreicher als in Glasgow. Dazu trägt auch bei, dass nur 90 von 391 katholischen Priestern aus Irland kommen. Obwohl in Liverpool die demografischen Voraussetzungen für einen mächtigen „irisch-katholischen“ Klub à la Celtic Glasgow besser sind als in der schottischen Industriemetropole, kommt es hier zu keiner vergleichbaren Initiative. Liverpools irisch-nationalistische Politiker zeigen wenig Interesse an einer „irischen Alternative“ zum FC Liverpool oder FC Everton. Stattdessen fördert man die Gaelic Games, doch die überwiegende Mehrheit der Einwanderer zieht Soccer vor.
Stadt der Slums
Mit Glasgows Entwicklung zum „Workhouse of the World“ und der irischen Einwanderung kommen auch die Slums. Wie groß dort die Not ist, verdeutlichen einige Zahlen: In den 1840ern beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung in Glasgow 30 Jahre. Damit liegt sie unter dem Wert, der 150 Jahre später für die meisten großen Städte in der Dritten Welt gilt. 1843 erkranken zwölf Prozent der Bevölkerung Glasgows an Typhus, fast jeder dritte Infizierte stirbt. Im gleichen Jahr schreibt das englische Journal „The Artizan“ über die Stadt am Clyde: „Die arbeitende Klasse macht hier 78 Prozent der ganzen Bevölkerung aus und wohnt in Stadtteilen, welche in Elend und Scheußlichkeit noch die niedrigsten Schlupfwinkel von St Giles und Whitechapel, die Liberties von Dublin, die Wynds von Edinburgh übertreffen. (…) Die Häuser sind förmlich vollgedrängt von Einwohnern; sie enthalten drei oder vier Familien – vielleicht 20 Personen – auf jedem Stockwerke, und zuweilen ist jedes Stockwerk in Schlafstellen vermietet, so dass 15 bis 20 Personen in einem einzigen Zimmer aufeinandergepackt, wir mögen nicht sagen: untergebracht sind. Diese Distrikte beherbergen die ärmsten, depriviertesten und wertlosesten Mitglieder der Bevölkerung und sind als die Quellen jener furchtbaren Fieberepidemien zu betrachten, die sich von hier aus über ganz Glasgow verbreiten.“ Noch 1888 sind von den 11.675 Toten, die in Glasgow registriert werden, 4.750 Kinder unter fünf Jahren. Weitere 1.192 erreichen nicht das 20. Lebensjahr, und weniger als 2.000 überschreiten die 60. Neben Typhus grassieren Rachitis, Cholera, Pocken, Tuberkulose, Diphterie. Auch der Alkoholismus ist weit verbreitet, und Schlägereien sind an der Tagesordnung. Das Glasgow des 19. Jahrhunderts hat in mancherlei Hinsicht mehr Ähnlichkeit mit dem damaligen Chicago oder New York als mit irgendeiner anderen britischen Stadt.
An Gortar Mór
Mitte des 19. Jahrhunderts plagen die irische Insel eine Reihe von Hungerkatastrophen, die als „The Great Famine“ (gälisch: An Gortar Mór) in die Geschichtsbücher eingehen. Das rasche Bevölkerungswachstum – 1800 leben ca. fünf Millionen Menschen auf der Insel, 1846 sind es ca. 8,5 Millionen – hatte zu einer weiteren Parzellierung des Bodens geführt, wovon vor allem die wohlhabenden englischen Landlords profitieren. Da die südirische Industrie von der britischen Konkurrenz zerstört wurde, sind etwa zwei Drittel der Bevölkerung von der Landwirtschaft abhängig. Für die armen Bauern, die hohe Abgaben an die Landbesitzer und die protestantische Church of Ireland zu entrichten haben, ist die Kartoffel das Hauptnahrungsmittel. Als zwischen 1846 und 1851 mehrere Kartoffelernten durch Fäule fast vollständig vernichtet werden, kommt es zur Katastrophe. 1,5 Millionen Iren sterben den Hungertod, etwa die gleiche Zahl von Menschen sieht den einzigen Ausweg in der Emigration.
Die Hungerkatastrophe zeitigt im Norden und Süden der Insel unterschiedliche Auswirkungen. 1841 leben in der Provinz Ulster (sechs ihrer neun Grafschaften bilden später den Staat Nordirland) noch 2.386.000 Menschen, 1891 sind es nur noch 1.620.000. Ulsters Bevölkerungsexpansion wird durch die Hungerkatastrophen beendet. Aber in den südlichen bzw. westlichen Provinzen Munster und Connacht ist die Entwicklung noch viel dramatischer.
Die unterschiedliche Intensität der Hungerkatastrophen in Ulster und Munster/Connacht sowie innerhalb Ulsters, wo die katholischen Gebiete stärker betroffen sind als die protestantischen, nährt das protestantische Überlegenheitsdenken und vertieft auf der Insel die Kluft zwischen Norden und Süden sowie zwischen privilegierten Protestanten und unterprivilegierten irischen Katholiken. Das Massensterben im Süden der Insel wird auf eine vermeintliche Unfähigkeit und Rückständigkeit der dort lebenden katholischen Bevölkerung geschoben. Die katholische Sichtweise von „The Great Famine“ lautet indes völlig anders: Die Hungerkatastrophen waren ein bewusst herbeigeführter Genozid, um die irisch-katholische Bevölkerung zu dezimieren und so die irische Insel regierbarer zu machen. Denn wirksame Hilfsmaßnahmen seitens der britischen Regierung waren ausgeblieben. Dem Land hatte es nicht an Lebensmitteln gefehlt. Aber Vieh und Getreide waren für die Versorgung Englands bestimmt, und der Lebensmittelexport wurde in den Jahren des Hungers nur unwesentlich eingeschränkt.
„The Great Famine“ ist für Irland ein Ereignis von kolossaler Bedeutung und zeitigt vielschichtige politische und soziale Konsequenzen. Die Katastrophe erhöht die wirtschaftliche Abhängigkeit vom britischen Nachbarn, wohin nun nicht nur Getreide und Vieh exportiert werden, sondern auch jener Teil der Bevölkerung, den die Heimat nicht mehr ernähren kann. In den Städten der Industrieregionen Schottlands und Nord-Englands sowie in London entstehen große irische Communities. Friedrich Engels schreibt 1845 in seiner Studie „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ (in der er sich aber auch Schottland – namentlich Glasgow und Edinburgh – widmet): „Man rechnet, dass bis jetzt über eine Million auf diese Weise eingewandert sind und jährlich noch an fünfzigtausend einwandern, die sich fast alle auf die Industriebezirke, namentlich die großen Städte werfen und dort die niedrigste Klasse der Bevölkerung bilden. So sind in London 120.000, in Manchester 40.000, in Liverpool 34.000, Bristol 24.000, Glasgow 40.000, Edinburgh 29.000 arme Irländer. (…) Die schlechtesten Viertel aller großen Städte sind von Irländern bewohnt; überall, wo ein Bezirk sich durch besondern Schmutz und besonderen Verfall auszeichnet, kann man darauf rechnen, vorzugsweise diese keltischen Gesichter anzutreffen …“
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