1 ...6 7 8 10 11 12 ...30 „Ich brauche deine Hilfe, András. Nur noch einmal“, flüsterte Máté aufgebracht.
„Wieso habe ich das geahnt?“, stellte dieser, wenig verwundert, mit seiner tiefen Stimme unhöflich fest.
Empört konterte Máté:
„Wieso so vorwurfsvoll? Es geht immerhin um mein Leben, nicht um deins. Und nicht nur um meins, sondern auch …“
Sein Gegenüber beugte sich etwas über den Tisch und sprach:
„Auch um meins! Ich bin dein Freund. Schon seit Jahren. Ich sehe, wie du dich quälst, wie du leidest, wie dein Leben bisher fern des normalen Lebensstroms abläuft. Immer auf Rückzug bedacht, immer im Dunkeln, keine Frau beständig an deiner Seite, keine Freunde und immer auf der Flucht vor dir selbst. Glaubst du, mir macht das Spaß, dich so zu sehen und immer Angst haben zu müssen, dass du dir oder jemand anderem irgendwann etwas antun könntest? Das ist jetzt deine Chance, Máté. Du wolltest ein neues Leben und wir wissen jetzt, wie es gehen kann. Also, was hält dich nach so vielen Jahren Leid davon ab, den geplanten Weg zu Ende zu gehen? Das ist es doch, weshalb du dich mit mir treffen wolltest, oder?“
Die Bedienung brachte ein Kännchen Kaffee und goss ihn ein. Máté legte seine Hände an die wärmende Tasse.
„Ich benötige noch etwas Zeit. Nur ein bisschen, ich will sie einfach besser kennenlernen.“
„Wieso?“, keifte András und fuhr im gleichen Atemzug fort:
„Das macht es doch nur noch schlimmer. Du kannst dir jetzt kein Mitgefühl leisten, denk an ein befreites Leben. Es steht dir nach so langer Zeit zu.“
„Herr Gott, es ist meine Familie. Ich habe ein Gewissen“, schleuderte er seinem Freund bissig, aber leise entgegen.
„Das sagst du! Jahrelang hast du sie nicht treffen wollen. Hast dich zurückgezogen und nur auf Drängen deiner Schwester auf Briefe geantwortet – und jetzt? Jetzt ist es plötzlich deine Familie?“ András Augen spiegelten Unverständnis.
„Es war schon immer meine Familie, und warum ich sie nicht treffen wollte, weißt du nur zu gut. Der Grund, weshalb ich jetzt hingereist bin, ist … eher verwerflich“, befand Máté traurig und rührte seinen Kaffee um.
Nach einer kurzen Pause legte András seine Zeitung zur Seite, rückte seinen Stuhl näher an den Tisch und erklärte in ruhigem Tonfall:
„Wie stellst du dir das vor? Soll ich dich hier in Pest-Buda irgendwo in einen Keller sperren? Dich mit Seilen an irgendwelche Bretter binden? Wir haben deine Fesseln extra herstellen lassen, damit du dich nicht befreien kannst und sie mit dir mitwachsen, um dir nicht die Hände, Füße oder den Hals abzuquetschen. Selbst wenn ich es schaffen würde, dich irgendwo zu befestigen, ist dein Brüllen und Heulen so unbändig, dass es die ganze Stadt wecken würde. Soll ich irgendwo einen dunklen Keller anmieten und zusehen, wie du Seile oder Ketten entzweist als wenn es Seidenfäden wären? Máté, du hast unbändige Kräfte, du reißt mit deinen Krallen und Zähnen alles auseinander. Ich habe es schon gesehen. Ich nehme nicht umsonst Reißaus, nachdem ich dich angekettet habe.“
„Wir fahren nach Hause und brechen alles ab. Ich weiß selbst nicht, wieso ich mich darauf eingelassen habe. Wer sagt, dass es überhaupt funktioniert? Ich weiß nicht mal, was ich überhaupt mache, wenn ich von dem Fluch heimgesucht werde. Was, wenn ich mich dann dem verweigere, was nötig wäre?“
András atmete tief durch und stierte seinen Freund an.
„Wir haben das alles schon tausendmal durchgesprochen. Entweder du willst deine Freiheit oder nicht. Du kannst dich von deinem Fluch freikaufen, aber nur, wenn du auch bereit bist, den Preis dafür zu bezahlen. Niemand weiß, ob das teuflische Geschäft wirklich funktionieren wird, aber es ist deine einzige Chance. Immerhin bin ich an deiner Seite, um dir dabei zu helfen. Du willst sie nicht erst kennenlernen, du hast ein anderes Problem, mein Freund. Du magst sie alle jetzt schon. Stimmt´s? Es ist anders, als du es dir vorgestellt hattest, richtig? Deine Schwester, die Haushälterin, die beiden Kinder … es ist ein bisschen wie früher, das gleiche gute Essen, eine Familie … Wäre da nicht der etwas störende Ehemann. Wenn du noch einen Tag länger bleibst, würdest du ihr wahrscheinlich von deinem wahren Leid erzählen.“
„Was wäre daran so schlimm? Vielleicht wäre es sogar das Beste.“
Mit einem lauten „Nein“, schlug sein Vertrauter mit der Faust auf den Tisch. Die Anwesenden im Kaffeehaus erschraken sich kurz, sahen irritiert zu den beiden Männern und vertieften sich dann wieder in ihre Gespräche.
András schüttelte den Kopf und versuchte, seinen Gefühlsausbruch wieder zu bändigen. Mit eindringlichem Blick flüsterte er:
„Wen hast du gedacht, triffst du dort an? Bestien? Deine Schwester hat sich immer um dich bemüht, und ich habe dir gesagt ‚ Keinen Briefkontakt‘ , weil ich wusste, dass es dich eines Tages in Schwierigkeiten bringen würde. Diese Geschenke, die vielen teuren Geschenke, die dein Gewissen rein kaufen sollen, hättest du dir sparen können. Ich hatte dich davor gewarnt. Es wäre das Beste gewesen, niemanden von ihnen kennen zu lernen. Nimm dir jetzt, was dir zusteht! Immerhin würde auch ich mir wünschen, einen weniger gefährlichen Freund an meiner Seite zu haben. Du hast noch genau Zeit bis morgen Abend, Máté. Dann ist es wieder soweit und ich werde in deiner Nähe sein, um unseren Plan mit dir durchzuführen. Wenn du es dir anders überlegen solltest, dann schicke mir ein Telegramm und ich werde abreisen. Aber dann erwarte zukünftig keine Hilfe mehr von mir, sondern suche dir einen anderen Getreuen, der an den besagten Tagen für dich die Gefahr eingeht, von dir zerrissen zu werden. Höre ich nichts von dir, bin ich morgen Abend da.“
Er stand auf und legte Geld für die Rechnung auf den Tisch.
Erschrocken sah Máté ihn an und ergriff verzweifelt sein Handgelenk.
„Du kannst mich doch jetzt nicht im Stich lassen, nur weil ich vielleicht meine Meinung ändere. Ich möchte einfach nur noch etwas Zeit und dafür brauche ich dich. Das weißt du auch. András, bitte.“
András zog seine Hand weg, drehte sich wortlos um und ließ sich seinen Mantel sowie den Hut bringen. Bevor er die Lokalität verließ, wendete er sich noch einmal seinem Freund zu.
„Wir sehen uns hoffentlich morgen Abend.“
Máté offenbart sein Leben
Máté war aus der Kutsche ausgestiegen, da streckte Orsolya ihre Nase schon zwischen der geöffneten Haustür hervor.
„Hallo, mein Junge. Schön, dass du schon wieder so schnell zurück bist. Komm rein, die Familie sitzt im Wohnzimmer zusammen. Sie sind vor wenigen Minuten heimgekommen. Ich habe Kuchen gebacken.“
Sie ließ ihn ein und nahm ihm seine Jacke und den Hut strahlend ab, bemerkte aber seine Betrübtheit. Mütterlich streichelte sie seine Wange und erkundigte sich besorgt:
„Geht’s dir denn gut?“
Er nickte stumm. Mit einem zweifelhaften Lächeln antwortete er:
„Ja, mir geht es gut. Es sind nur gerade so viele Erinnerungen, die auf mich einprasseln und die mich über so einiges nachdenken lassen … auch über vielleicht verlorene Zeit.“
Orsolya hing seine Kleidung an die Garderobe.
„Man kann nichts zurückholen, deshalb lass uns doch einfach zuversichtlich nach vorne blicken und uns darüber freuen, dass wir jetzt alle wieder zusammen sind. Erinnerungen habe ich auch. Manche trösten, manche schmerzen. Das kann sich über die Jahre aber auch wieder ändern.“
Dominik trat mit einem prüfenden Blick aus dem Wohnzimmer in den Flur.
„Ich habe doch Stimmen gehört und mir gleich gedacht, dass unser Hausgeist doch lieber einen Plausch hält, anstatt sich um die Arbeit zu kümmern, die ich förmlich nach dir rufen höre, Orsolya. Wie wäre es mit frischem Kaffee? Orsolya hat Kuchen gebacken und diesmal kann man ihn sogar essen, lieber Schwager. Für dich scheint sie förmlich über sich hinauszuwachsen.“
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