„Darf ich dann auch erfahren, was du weißt?“
„Ich würde jetzt gerne schlafen, Liebes. Lass uns in zwei Tagen reden“, gähnte er und tätschelte kurz ihre Hand.
„Du hast nichts herausgefunden. Jedenfalls nichts, was so spektakulär wäre, dass es sich lohnt, darüber zu reden, stimmt´s?“, versuchte sie, sein Desinteresse an diesem Gespräch zu erklären.
„Ich habe genug über ihn, um ein Buch schreiben zu können, aber ich will Fakten und keine Gerüchte, Geschichten oder Mutmaßungen. Deshalb warte ich ab, was meine politisch Getreuen über ihn herausfinden werden. Vielleicht wissen wir dann auch endlich, was er hier will. Schöner wäre natürlich, er würde einfach selbst etwas Relevantes über sich erzählen. Dieses abgedroschene Gefasel über die alten Zeiten ist doch Ablenkung. Sollte ich mich in ihm täuschen, werde ich mich für das, was ich von ihm gehalten habe, entschuldigen. Behalte ich recht und er ist ein Hochstapler, ein Betrüger, der sein Geld auf unrechtmäßige Weise erwirbt und jetzt pleite ist, bin ich gespannt, was er zu seiner Verteidigung und dem Grund seines Kommens vorzubringen hat. Ich will niemanden unter meinem Dach beherbergen, der kriminell und käuflich ist, herumschnorrt oder vielleicht sogar für Österreich spioniert und damit dem Ruf unserer Familie schadet. Es reicht mir schon, was über eure Familie Seltsames gemunkelt wurde. Ich hoffe, dein Bruder gibt keinen Anlass, dass diese Sachen alle wieder aufgerollt oder neu diskutiert werden.“
Seine Frau löschte trotzig das Licht.
„Manchmal frage ich mich, warum du mich überhaupt geheiratet hast, wenn dir dein Leumund so wichtig und meine Familie dir nur peinlich ist.“
Dominik reagierte darauf gar nicht mehr. Er kannte die immer wiederkehrenden Diskussionen um die Familiengerüchte und ihren getroffenen Stolz zur Genüge.
Der Mond streute sein Licht über die schneebedeckte, wilde Landschaft von Szamárhegy. Eine beißende Kälte schob die letzten Wolken am Himmel zur Seite und ließ den sternenklaren Himmel zum Vorschein kommen. Die gefrorene Oberfläche des Schnees glänzte zwischen den Silhouetten der kahlen Bäume wie Silber, und die Schatten der Zweige legten sich krallenartig auf den Weg zum Gutshof, während aus den Wäldern das Knurren und das Heulen der Wölfe zu hören war.
Máté wurde durch sein eigenes Schreien wach und schreckte hoch. Schweißgebadet und zitternd setzte er sich im Bett auf und rang nach Luft. Das Mondlicht schien ihm durch den kleinen Vorhangspalt ins Gesicht. Er rannte geradewegs zum Fenster und öffnete es hektisch. Er versuchte tief einzuatmen. In diesem Moment stürmte die Gräfin in sein Zimmer.
„Máté, was ist denn passiert?“
Sie hatte eine Lampe in der Hand und erfasste sofort, dass sein Bett leer war. Ihr Blick wanderte umgehend zum Fenster. Er hielt sich am Fensterbrett fest und sank in die Knie. Máriska eilte ihm zu Hilfe. Sie stellte hektisch ihre Öllampe auf dem Schreibtisch ab und nahm ihn in die Arme. Sein Nachtgewand war völlig durchnässt.
„Gott, was ist denn passiert? Du hast so fürchterlich geschrien.“
Dominik stand plötzlich im Türrahmen und fragte skeptisch:
„Soll ich einen Arzt holen? Brauchst du Hilfe, Schwager?“
Dabei entfachte er die Lampe auf dem Nachttisch. Máté schüttelte den gesenkten Kopf.
„Ich habe nur schlecht geträumt. Das ist alles. Es tut mir leid, wenn ich euch geweckt habe.“
„Mama! Was ist denn los?“, ertönte Bálints Stimme ängstlich vom oberen Stockwerk herunter.
Dominik murrte:
„Ich gehe zu den Kindern. Bleib du hier und kümmere dich um deinen Bruder!“
Als er sich umdrehte, fiel sein Blick auf seltsame Zeichnungen, die unter dem Bett hervorschauten. Wirre Zeichnungen von Augen, die etwas anstierten und Hände, die sich ausstreckten, sowie verschwommene Gesichter mit aufschreienden Mündern. Schweigend ging er aus dem Zimmer.
Máriska streichelte ihren Bruder und sagte:
„Du musst das Nachthemd ausziehen und dich abtrocknen. Ich bringe dir ein anderes und überziehe dein Bett, sonst erkältest du dich.“
Sie schloss das Fenster, holte ein frisches Nachthemd und saubere Bettwäsche aus dem Schrank.
Mitfühlend betrachtete sie ihren Bruder.
„Willst du mir vielleicht etwas erzählen?“
Er wich ihrem Blick aus und griff nach der Bettwäsche.
„Lass, ich mach das schon. Du musst wegen mir nicht …“
„Was muss ich nicht?“, unterbrach sie ihn.
Auch sie entdeckte nun die seltsamen Bilder neben dem Bett und wollte sich danach bücken. Máté trat die Zeichnungen erschrocken unter den Nachttisch.
„Das sind nur Skizzen für Theaterszenen.“
Sie schubste ihren Bruder auf den Stuhl, zog ihm das Nachtgewand über den Kopf, drückte ihm ein Handtuch zwischen seine Hände und befahl in einem sehr mütterlichen, aber bestimmenden Tonfall:
„Los, abtrocknen! Du bist wie ein kleiner Junge, schlimmer noch. Glaubst du, ich bin blind? Du siehst aus, als wenn du ein Gespenst gesehen hättest. Schweißgebadet und völlig blass.“
Während er sich trockenrieb, überzog sie das Kopfkissen und das dicke Federbett neu. Ebenso das Laken wechselte sie in Windeseile.
Er zog sich gerade das frische Nachthemd an, da warf sie ihm ein Handtuch über den Kopf und rubbelte damit seine Haare trocken.
„Lass das! Ich bin keine sieben Jahre mehr alt und kann das selbst“, grummelte er. Sie zog das Tuch weg.
„Ist das auf dem Papier das, wovon du träumst?“
Er griff nach ihren Händen.
„Es tut mir so leid, Máriska. Ich wollte euch nicht erschrecken, aber ich … ich.“
Er wusste nicht, wie er es erklären sollte. Ein dicker Kloß machte sich in seinem Hals breit und seine Gefühle holten ihn ein. Den Tränen nahe versuchte er, den fordernden Blicken seiner Schwester auszuweichen.
„Ich möchte nicht, dass du wieder gehst. Hörst du? Im Gegenteil. Ich will, dass du bleibst und mir sagst, was dich bewegt und bedrückt. Ich bin deine Schwester, Máté. Du hast früher bei mir im Bett geschlafen, weil du Angst vor Gewitter hattest. Wir haben uns gegenseitig Dreck nachgeworfen, wenn wir stritten. Ich habe dir das Reiten beigebracht, dich getröstet, wenn du gefallen bist, und später haben wir im Herbst die Äpfel vom Nachbarn gestohlen und heimlich verspeist. Es brach mir das Herz, als Mama mit dir weggegangen ist und ich nicht wusste, warum. Ich gebe dich doch jetzt nicht wieder so einfach her. Wenn du in Not bist, dann sag mir doch bitte, was dich quält.“
Er nahm sie ganz fest in den Arm und schluchzte:
„Ich habe fürchterliche Träume, Máriska. Etwas jagt mich Nacht für Nacht. Ich versuche wegzulaufen, aber es folgt mir überall hin. Es hetzt mich durch die Dunkelheit über schmale Pfade, Felsen, Klippen, bis zu meiner völligen Erschöpfung. Dann stürzt es sich auf mich und nimmt mir die Luft. Oder es stößt mich in eine unendliche Tiefe. Ich habe deswegen schon viele Ärzte aufgesucht, aber alle sagen, es sind nur Träume und ich soll verstehen, was sie mir sagen wollen. Manchmal suchen sie mich zweimal in der Nacht heim. Ab und zu träume ich, dass ich zerschmettert auf den Klippen im Meer liege und die Wellen mich langsam und behutsam ins Wasser ziehen. Es ist ein wunderschönes Gefühl der Ruhe und des Friedens. Wenn ich wach werde, ist alles so, wie es vorher war.“
Máriska erschrak vor dem, was ihr Bruder da von sich gab. Sie zog ihn auf die Matratze und beide setzten sich. Er griff ihre Hand.
„Ich bin einfach unruhig, aber nicht verrückt. Das sind die Folgen meines Geschäftslebens und die Anspannung. Mach dir keine Sorgen.“
Máté schien auf einmal wie ausgewechselt und wieder sehr gefasst. Er begab sich ins Bett, lehnte sich ans Kissen und deckte sich bis zur Hälfte zu. Diesen Moment nutzte sie und griff besorgt nach den Zeichnungen unter dem Nachttisch. Er wollte ihr die Papiere wegziehen, aber sie hielt diese fest und musterte die wirren Gemälde. Diese Kunstwerke wirkten auf den Betrachter nicht nur angsteinflößend und bedrohlich, sondern man hatte das Gefühl, hineingezogen zu werden. Die darauf abgebildeten Augen bohrten sich unaufhörlich in die Seele und die Gedanken jener, die sie ansahen. Schlagartig legte Máriska die Bilder zur Seite.
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