„Ich hätte sie dir schon viel früher geben sollen. Es sind die Nachrichten von unserem Vater an unsere Mutter. Ich kenne sie alle auswendig. Vielleicht darf ich die Zeilen von unserer Mama an unseren Papa auch einmal lesen?“
Máriska nickte und fasste seine Finger.
„Selbstverständlich darfst du das. Denn auch ich habe alle aufgehoben, die ich fand, und in eine Schatulle gelegt.“
Er führte ihre Hand an den Schmuckkasten und öffnete ihn gemeinsam mit ihr.
„Ich habe nichts herausgenommen. Und tragen werde ich ihn mit Sicherheit auch nicht. Mama hat ihn mir zu Lebzeiten geschenkt, weil sie dachte, ich benötige ihn eines Tages, um den Inhalt zu Geld zu machen. Nie wurden Teile dafür gebraucht, deshalb sollen die Schmuckstücke dir gehören“, äußerte er sanft.
Máriskas Blick glitt über die wertvollen Ketten, Ringe, Ohrringe und Broschen.
„Das ist alles wunderschön – ein Vermögen. Woher hatte Mama so viel Geld? Von wem hat sie den Schmuck denn bekommen?“, fragte seine Schwester besorgt.
„Ein paar Erbstücke von unseren Großeltern, ein paar Dinge von unserem Vater, aber das meiste von mir, als ich es mir leisten konnte. Wir haben auch schlechte Zeiten gesehen und es gab Probleme, die verhinderten, meine Geschäfte so zu führen, wie es erforderlich gewesen wäre. Aber wie gesagt, ich brauche diese Sicherheit nicht mehr und will diese Erinnerungsstücke für solche Zwecke auch nicht nutzen. Es soll alles dir gehören.“
Orsolya gluckste und schluckte ihre Betroffenheit hinunter.
„Na also, es geht doch“, murmelte der Graf mit einem Grinsen, ohne zu Orsolya zu schauen. Máriska sah ihren Bruder an und umarmte ihn fest.
„Danke! Ich werde auf diesen Schatz achtgeben und ihn als Rückhalt für Krisenzeiten ansehen. Er gehört uns beiden.“
„Nein, es ist ein Geschenk für dich und deine Familie.“
Dominik begutachtete die auf dem Tisch liegenden Sachen und machte sich seine eigenen Gedanken darüber.
Die Gräfin klatschte auf einmal in die Hände.
„So, wegräumen, wir haben noch Nachtisch, der auf uns wartet.“
Sie stellte die Schatulle behutsam auf ein Schränkchen und legte die Briefe darauf. Bianká faltete mit Orsolya die Kleider wieder zusammen und trug diese in das Zimmer der Haushälterin. Auch Bálint räumte seine Geschenke weg.
Die Familie gestaltete sich einen angenehmen Abend. Máriska war klug genug, mit ihren Fragen bis zum nächsten Tag zu warten, wenn die Kinder in der Schule und Dominik bei der Arbeit waren. Als der Hausherr mit seiner Gattin und seinem Schwager endlich allein war, brannte ihm jedoch eine Frage unter den Fingernägeln.
„Jetzt wo die Kinder und die schreckhafte Orsolya im Bett sind, möchte ich dich noch etwas fragen. Du wohnst in Wien. Ich habe gehört, dort soll ein Irrer sein Unwesen treiben. Wieso schafft die Polizei es nicht, diesen Menschen zu fassen? Weißt du da mehr drüber? Seit Jahren geht das nun schon so, dass er auftaucht, wieder für längere Zeit verschwindet, dann wieder in Erscheinung tritt … und niemand kann ihn fassen. Wie ist so etwas möglich? Ist doch eine eigenartige Geschichte.“
Máté zuckte mit den Schultern.
„Ich habe auch davon gehört, und die Zeitungen sind hin und wieder voll davon. Dieser Mörder ist schon lange in der Gegend von Wien unterwegs, aber es gibt sehr viele Nachahmer, sodass nicht immer klar ist, ob es sich um die ein und dieselbe Person handelt, die ihr Unwesen treibt. Die Redakteure machen aus diesen traurigen Ereignissen phantasievolle Geschichten und Mutmaßungen, um ihre Zeitungen zu verkaufen. Wenn die Hälfte von dem stimmt, was geschrieben wird, wäre das schon viel. Warum interessiert dich das?“
Dominik nippte an seinem Glas Wein.
„Na ja, sollten sich unsere familiären Verbindungen festigen und die politische Lage uns nicht in die Quere kommen, bin ich mir sicher, dass meine Frau und die Kinder bestimmt gerne einmal nach Wien reisen würden. Aber wenn ich Angst haben müsste, dass jemandem von uns etwas zustoßen könnte, weil ein unbändiger Irrer seinem Treiben nachgeht, würde ich mir das doch sehr wohl überlegen. Gerade weil sich die Meldungen im Moment darüber häufen. Da macht man sich als Familienvater schon so seine Gedanken.“
Sein Schwager antwortete leise:
„Das kann ich gut verstehen.“
Der Graf bemerkte lächelnd:
„Und jetzt, wo ich dich kennengelernt habe, ist mir nicht wohl dabei, zu wissen, dass solch ein Mörder dir vielleicht nachts begegnet, wenn du wieder mal zu Hause in Wien im Dunkeln unterwegs bist. Wir alle werden zukünftige Nachrichten aus Wien sorgenvoller, wie auch interessierter aufnehmen als bisher.“
Máté stand an der Waschschüssel und ließ sich noch einmal Wasser übers Gesicht laufen. Beim Abtrocknen sah er in den Spiegel und konnte so, am Fenster hinter ihm, kleine Eisblumen entdecken, die von der Nachttischlampe mit schummrigem Licht angeleuchtet wurden. Der wandseitige Vorhang hatte sich unglücklich hinter den aufwendig gearbeiteten Sekretär gehakt. Er zog sein geöffnetes Hemd aus und legte es rechts über die Jacke, die bereits über einem Stuhl hing. Es war ein langer Tag gewesen, aber jetzt erst fühlte er seine Müdigkeit in den Knochen, denn die wohlige Wärme des kleinen Ofens zu seiner linken knisterte beruhigend und entspannte seine Muskeln. Er ging zum Fenster und zog die dicken Vorhänge etwas zusammen, damit die Kälte abgehalten wurde. Einen Spalt ließ er offen, um den Himmel sehen zu können. Danach setzte Máté sich auf die Bettkante und ließ seinen Blick schweifen, während er seine Schuhe auszog. Es war sehr sauber. An der gegenüberliegenden Wand vom Bett, stand rechts von der Tür ein hüfthoher Wäscheschrank. Darauf befand sich ein kunstvoll bestickter Läufer mit akribisch aufgereihten Porzellanreitern. Ein Gemälde, welches ihre Eltern zeigte, hing darüber. Er beugte sich über das Bett, um seine Taschenuhr auf dem Nachttisch abzulegen. Der alte Schrank links neben der Tür zauberte ein kurzes Schmunzeln auf seine Lippen, denn es war ein Möbelstück aus seinem früheren Kinderzimmer. Die abgesprungene Ecke der Messingverkleidung am Schlüsselloch machte es unverkennbar. Es war still. Anders als in Wien bedeutete die Nacht hier Dunkelheit und nächtliche Ruhe. Keine Musik, die von einschlägigen Etablissements beim Öffnen der Türen durch die Straßen hallte, keine Hufgeräusche, die die Nachtschwärmer vom Theater zurückbrachten oder ähnliches. Es war einfach nur still. Wie lange würde er hier wohl verweilen? Er starrte lange und intensiv das Bild der Eltern an. Dann ließ er sich mit einem verzweifelten Seufzer rückwärts auf das Bett fallen und vergrub sein Gesicht in den Händen. Seine Gedanken rasten. Der Abend war gut gelaufen und er hatte ihn genossen. Schlimmer noch, er hatte sich nach langer Zeit wieder einmal zu Hause und aufgehoben gefühlt. Dieses Gefühl musste schleunigst wieder verdrängt werden.
Máriska kuschelte sich zu ihrem Mann ins Bett und gab ihm einen Kuss.
„Danke, Dominik. Ich weiß, dass du dich heute Abend sehr gezügelt hast.“
Er legte sein Buch zur Seite.
„Das kannst du laut sagen. Die teuren Geschenke, dieser immer wieder abgleitende Blick ins Nichts … und wie er dich ansieht. Und übrigens auch Bianká. Das gefällt mir ganz und gar nicht. Du bekommst zwei Tage Zeit, dann will ich mehr über ihn wissen, und zwar von dir oder ihm. Wenn nicht, lasse ich Nachforschungen anstellen.“
„Hast du das nicht eh schon? Du wärst nicht der, der du bist, wenn du nicht schon alle Hebel in Bewegung gesetzt hättest, um etwas über ihn herauszufinden. Du kannst mir wahrscheinlich mehr über ihn erzählen, als ich dir.“
„Vielleicht.“
Mit diesem Worte löschte er seine Nachttischlampe. Máriska drehte ihre Lampe heller und meinte trotzig:
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