„Hör auf! Ich will das nicht hören! Mich interessieren diese verdammte Politik und das Feilschen um Macht und Länder nicht. Bevor ich mein Kind in einen Krieg ziehen lasse, sperre ich es lieber im Keller ein. Wir hatten das alles schon einmal und ich bin nicht erpicht darauf, dass es erneut geschieht. Nur, weil sich die sogenannten Staatsmänner nicht vernünftig unterhalten können, wird mein Kind nicht zum Mörder gemacht.“
Sie versuchte, sich wieder zu fangen, und drehte die Öllampe auf dem Tisch auf. Die Dämmerung hatte den Raum dunkel werden lassen. Sie wechselte das Thema. „Ich weiß, dass du von seinem Besuch nicht begeistert bist.“
Ein abfälliges, kurzes Lächeln zeigte sich auf Dominiks Gesicht.
„Er hat sich zwanzig Jahre nicht blicken lassen, hat immer irgendwelche Ausflüchte gefunden, nicht kommen oder uns empfangen zu können. Wieso ausgerechnet jetzt? Er lebt als gebürtiger Magyar in Wien. In einer Zeit, wo immer noch alle Ungarn gegen Österreich aufstehen sollten und alles im Umbruch ist, reist er aus sentimentalen Gründen, einfach mal so, ungehindert von Österreich nach Ungarn zu seiner Schwester. Die explosive Atmosphäre zwischen den Ländern scheint ihn nicht abhalten zu können. Findest du das nicht seltsam, Liebes? Gut, er hat dir auf deine Briefe immer geantwortet, aber dennoch nie von sich aus an dich geschrieben. Nicht mal zu deinem Geburtstag. Und den Tod deiner Mutter … da war er wohl zu angeschlagen, um diesen zeitnah zu erwähnen.“
Die Gräfin schaute ihren Mann trotzig an.
„Warum kannst du dich nicht einfach mal mit mir freuen? Wieso musst du immer alles hinterfragen? Vor allen Dingen politisch? Ich habe mich solange danach gesehnt, ihn wiederzusehen. Es gibt so viele Fragen, die er mir jetzt vielleicht beantworten kann. Warum ist Mama damals mit ihm weggegangen und nie zurückgekehrt? Wieso haben sich unsere Mutter und unser Vater trotzdem ab und zu getroffen und sich Briefe geschrieben? Warum sind Papa und ich nicht auch einfach nach Österreich ausgewandert?“
„Das hätte noch gefehlt!“
Sie pausierte und nahm die Hände ihres Mannes in ihre.
„Bitte Dominik, alles hat seine Zeit, und vielleicht ist jetzt die Zeit für seinen Besuch gekommen. Versuche, die Politik heute Abend aus dem Spiel zu lassen. Lerne ihn doch erst einmal kennen. Das muss ich doch auch, vielleicht ist er ja wie ein fremder Mensch für mich.“
„Davon gehe ich aus. Was weißt du denn schon über ihn?“
„Ich möchte trotzdem, dass er sich hier wohl fühlt, und zwar nicht als Gast, sondern als mein Bruder und als Familienmitglied. Kannst du das nicht verstehen?“
Dominik atmete tief durch. Er hatte kein gutes Gefühl, was diesen Besuch betraf. Die Umstände seiner Rückkehr, die lange Zeit seiner Abwesenheit, sein seltsamer Ruf in Wien, die lückenhafte und von Gerüchten umwobene Familiengeschichte der Márusis, die ihn schon bei seiner Frau gestört hatte, als er sie ehelichte, machten ihn skeptisch. Schweren Herzens nickte er, küsste sie auf die Stirn und entgegnete beim Verlassen des Zimmers:
„Ich versuche es, Liebes.“
Aus dem Fenster der Kutsche blickend, verfingen sich seine Gedanken in den vorbeiziehenden Bildern der Vergangenheit. Der aufgewirbelte Schnee der Kutschenräder, der Geruch der heimatlichen Luft und der Anblick der vertrauten Natur weckten Erinnerungen an seine Kindheit, die Familie, die Nachbarn und ließen das Gefühl von Geborgenheit in ihm aufkommen. Aber er spürte auch Angst vor dem stärker werdenden Heimatgefühl, das sich sowohl in eine schöne, aber auch schmerzliche Melancholie verwandelte.
„Ich sehe eine Kutsche. Er kommt! Er kommt!“, rief Máriska aus Leibeskräften durchs Haus.
Hastig lief sie vom Wohnzimmer zur Haustür und riss diese freudig auf. Rechtzeitig, bevor es dunkel wurde, fuhr die Droschke endlich in den Hof ein. Máté schaute vorsichtig aus dem Fenster, während er die Baumallee bewunderte, durch die sie trabten. Das Gefährt nahm eine ausladende Kurve und so konnte er rasch seinen Blick über das restliche Grundstück schweifen lassen. Das dreistöckige weiße Herrscherhaus mit kleinen Erkern an den Außenzimmern und prunkvollem Treppenaufgang thronte förmlich am Ende des Anwesens. Es war prachtvoller gebaut als es für eine Familie, die aus dem Kleinadel stammte, üblich war. Die großzügige Aufgangstreppe erhob sich über den gemauerten Bereich, wo die Kriechkeller untergebracht waren. Links, etwas abseits des Hauses, befand sich ein gemauerter Pferdestall.
Die Kinder sprangen die Stufen im Hausgang herab und stellten sich sogleich neben ihre Mutter, die bereits vor dem Gebäude auf der letzten Treppe stand. Aufgeregt wischte sich Máriska unauffällig ihre zittrigen und feuchten Hände an ihrem Rock ab. Der Hausherr schritt langsam mit einer beschwichtigenden Handbewegung vor seine Familie, um als erster den Gast begrüßen zu können. Orsolya zog, eilig aus der Küche kommend, den fünfundvierzig Jahre alten Haushelfer Ervin Abonyi hinter sich her. Keinesfalls wollte sie die Ankunft des jungen Herrn verpassen. Ervin stopfte sich, während er lief, noch die restliche Griebenpogatsche in den Mund, die er eigentlich in Ruhe, noch vor seinem Feierabend, hatte essen wollen. Er war ein gemütlicher Geselle. Nichts brachte den kräftigen, wortkargen Mann aus der Ruhe. Beide Angestellten platzierten sich oben an der Haustür.
Die Räder der Kutsche gelangten zum Stehen. Máté hörte sein Herz aufgeregt schlagen; dennoch bemühte er sich beim Aussteigen, einen gelassenen Eindruck zu machen.
Er trug einen Zylinder und hatte einen sehr edlen schwarzen Mantel an. Der gutaussehende und stolz wirkende Mann zog seine Kopfbedeckung ab und verneigte sich vor der Familie. Der Besucher war eine eigentümliche Erscheinung. Nicht unsympathisch, denn seine strahlend blauen Augen wirkten gütig, aber darin spiegelte sich auch eine befremdliche Tiefgründigkeit. Die etwas längeren, nach hinten gekämmten, dunklen Haare ließen ihn verwegen wirken. Herzlich und doch auf seltsame Weise distanziert lächelte er und löste, ohne es zu wollen, Faszination bei den Umherstehenden aus. Máriskas Freude raubte ihr die Fähigkeit zu sprechen, und so starrte sie ihren Bruder nur bewundernd an. Máté bemerkte dies und blickte mit einem verschmitzten Lächeln beschämt zu Boden. Dominik setzte gerade zur Begrüßung an, da ertönte ein lauter und gellender Freudenschrei. Orsolya tippelte so schnell sie konnte die Treppe herunter und fiel dem jungen Herrn weinend vor Freude in die Arme.
„Ich halte das nicht aus. Ich muss Sie umarmen, junger Herr. Ich habe Sie so viele Jahre nicht gesehen. Ich bin so glücklich, ich bin so glücklich.“
Beherzt zog sie ihn an sich und drückte ihn fest. Er erwiderte freudig die Geste und ließ die vielen Küsse der stämmigen Frau gerne über sich ergehen.
„Orsolya, immer noch so temperamentvoll und herzlich wie damals“, stellte er mit seiner angenehmen Stimme vergnügt fest.
Aufgeregt schob sie ihren verrutschten Haarkranz zurecht und bückte sich nach dem Zylinder, der dem jungen Herrn bei der überfallartigen Begrüßung aus der Hand gefallen war.
Máté gab ihr einen Handkuss.
„Ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns jemals in förmlicher Weise angesprochen haben. Ich denke nicht, dass wir das jetzt einführen sollten, Orsolya, oder?“
„Du darfst dich wieder in die Küche scheren, Orsolya!“, unterbrach der Graf diese überschwängliche Glückseligkeit.
Die Haushälterin überhörte dies geflissentlich. Sie packte den Besucher am Ärmel und führte ihn direkt zu Máriska, um seine Hände in ihre zu legen.
„Das ist deine Schwester, junger Herr. Erkennst du sie wieder? Ist sie nicht eine hübsche Dame geworden?“, fragte die kleine Frau in einem sanften Tonfall und zog die Gräfin von der letzten Stufe auf den Boden.
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