„Es … es tut mir leid, Máriska.“
„Schon gut.“
„Nein, ist es nicht. Ich bin im Moment einfach so angespannt und durcheinander.“
„Wenn du darüber nicht reden willst, verschieben wir es einfach. Schau, da oben. So einen Boden mit Stroh gab es bei uns zu Hause auch, weißt du noch? Da haben wir beide immer viel Blödsinn gemacht. Wollen wir hochklettern und uns an die tollen Zeiten von früher erinnern?“
Erwartungsvoll wartete sie auf eine Reaktion. Ihr Bruder wandte sich ihr mit einem seltsamen Gesichtsausdruck zu, der sie ängstigte. Es war diese Leere in seinen Augen – gepaart mit Angst, Verzweiflung und doch unbändigem Zorn. Er nahm sie schweigend in den Arm und hielt sie ganz fest. Liebevoll küsste er ihre Stirn und nahm den ihm so vertrauten Geruch ihrer Haut wahr. Máriska genoss diese innige Umarmung. Es erinnerte sie daran, wie ihr Vater sie umarmte, wenn sie früher traurig gewesen war. Langsam ließ er sie los und nahm ihre Hände in seine, um diese zu liebkosen. Fast flehend kamen die Worte über seine Lippen.
„Sei mir nicht böse, aber ich würde gerne ein wenig allein sein. Ich bleibe einfach hier und sortiere meine Gedanken. Darf ich das?“
„Du musst doch nicht fragen, wenn es dir guttut, mache es. Du sollst dich hier wohlfühlen. Wenn es dir zu viel wird in unserem Trubel, dann zieh dich einfach zurück. Du hast dein Zimmer, den Hof, den Stall und kannst dich auch im Haus ganz nach Belieben frei bewegen. Sag mir bitte einfach nur, wenn du etwas brauchst oder reden möchtest, ja?“
Er nickte und setzte an, um noch etwas hinzuzufügen, doch Máriska hielt ihm ihren Finger vor den Mund.
„Es ist in Ordnung. Ich bin glücklich, dass du wieder da bist. Alles andere können wir zu einem anderen Zeitpunkt besprechen.“
Sie verließ den Stall und lief langsam zum Haus zurück.
Máté war nun allein mit seinen Gedanken. Er blickte aus dem Stallfenster zur untergehenden Sonne, die gerade die letzten Strahlen ihres Lichts mit sich nahm. Verzweifelter Zorn ließ ihn in ein paar aufgetürmte Strohballen an der Wand einschlagen. Vor ihnen sank er in sich zusammen und blieb auf dem Boden sitzen.
Plötzlich hörte er ein leises Klatschen und eine ihm bekannte Stimme, die ihn aufschrecken ließ.
„Bravo, mein Freund. Ich dachte schon, dass du schwach werden würdest.“
Blitzschnell drehte er seinen Kopf in die Richtung, aus der die Worte kamen. Aus dem Schatten des Stallbodens trat András. Er kletterte zu seinem Freund herunter und setzte sich auf einen Strohballen neben ihn.
„Du musst lernen, deine Gefühle zu kontrollieren, sonst machst du dich verdächtig. Bleib ruhig“, versuchte András, auf Máté einzuwirken.
„Was willst du hier?“
„Schauen, wie es dir geht“, entgegnete sein Freund ruhig.
„Was ist mit dem Sohn von Máriska?“
„Leise, oder willst du, dass alle mitbekommen, dass ich hier bin? Wovon redest du? Was ist mit ihrem Sohn?“
Máté ließ sich neben ihm nieder und strich sich nervös seine Haare zurück.
„Er hat die gleichen heftigen Symptome, wie ich sie früher auch hatte. Wie kann das sein?“
Inständig schaute er in die braunen Augen seines Vertrauten.
„Weißt du etwas darüber?“
András schüttelte voller Unverständnis den Kopf.
„Was ist los mit dir? Wieso sollte ich wissen, was der Junge hat?“
„Fieberschübe, Knochen- und Muskelschmerzen – er wird in Kürze achtzehn Jahre alt. Weißt du, was das heißt?“
„Es muss nicht so sein.“
„Aber, verdammt, es könnte“, zischte Máté leise.
„Wenn es so wäre, dann werden wir das wohl mitbekommen. Es ist ja nicht deine Schuld, wenn es so wäre.“
Der Verzweifelte packte ihn am Kragen.
„Es geht nicht um Schuld, sondern darum, dass er das Gleiche mitmachen wird wie ich.“
András schlug die Hände seines Angreifers weg.
„Das weißt du doch gar nicht. Mir ist jedenfalls nichts bekannt von einer Weitervererbung. Steigere dich da jetzt nicht rein. Du bist ja schlimmer als deine Schwester.“
Sein Gegenüber stand auf und lehnte sich unruhig an die Wand. Prüfend sah er seinen Gesprächspartner an.
„Weißt du eigentlich, was Mitgefühl ist? Wenn den Jungen das ereilt, was mich ereilt hat, bin ich der Einzige, der ihm helfen kann. Die ganze Familie wird leiden, alle. So wie bei uns. Bevor Máriska ihre Familie auch noch verliert, muss ich …“
„Was? Was musst du? Du hast nur eins zu tun, damit du frei wirst und die Welt von dem Ungeheuer befreit wird, das in dir schlummert.“
Wütend ging András auf seinen Freund zu.
„Du weißt nicht, was dein Neffe hat und ich auch nicht. Es gibt tausende von Krankheiten, die sich in den Symptomen ähneln, also höre jetzt auf.“
„Aber ich wäre verloren gewesen ohne meine Mutter. Verstehst du das nicht?“, flüsterte er verzweifelt.
András spürte, dass Máté noch nicht im Stande war, das durchzuführen, was sie beide geplant hatten. Das gefiel ihm nicht. So versuchte er, Verständnis zu zeigen, anstatt ihn zu drängen.
„Ich komme morgen und helfe dir, Zeit zu gewinnen.“
Máriskas Bruder blickte überrascht. András klopfte ihm auf die Schulter und sagte:
„Ich bin dein Kumpel, fast wie ein Bruder für dich, wenn auch über die Jahre müde geworden, dich zu tragen, aber ich bin und bleibe es. Gönne dir erst mal Ruhe. Es nützt nichts, wenn ich dir erneut sage, dass du sie hättest nie persönlich kennenlernen dürfen. Dafür ist es zu spät. Aber vergiss nie, dass wegen dir zu viele Menschen schon gestorben sind und andere dadurch gelitten haben. Du wirst immer stärker. Irgendwann kann ich dich nicht mehr bändigen, und die Ketten werden es auch nicht mehr. Einfach erschießen kann ich dich nicht, wenn du so vor mir stehst, das bringe ich nicht übers Herz. Zu oft haben wir das schon versucht, und ich bin gescheitert. Ich kann dich auch nicht einfach sterben lassen, wenn du wieder auf seltsame Ideen kommst. Weißt du warum? Weil wir immer daran geglaubt haben, dass es irgendwann eine Lösung geben wird. Jetzt ist sie da, lass sie nicht vorbeiziehen!“
Beruhigend legte András seine Hand auf die Schulter seines Freundes.
„Schau, dass du morgen bereit bist, mit mir abreisen zu können. Wir fahren offiziell nach Pest-Buda wegen geschäftlicher Dinge. Ich kümmere mich um irgendein Versteck und den Rest. Danach reden wir noch einmal in Ruhe. Gehe jetzt. Ich verschwinde so, wie ich gekommen bin.“
„Danke“, hauchte Máté erleichtert und umarmte ihn. Dann lief er zurück ins Haus.
András blickte ihm hinterher und flüsterte:
„Es gibt einen Preis für deine Freiheit, mein Freund! Und du wirst ihn sicher bezahlen. Dafür werde ich sorgen. Zu lange schon sind wir aneinander gekettet. Es wird Zeit, dass sich das ändert.“
Orsolya schaute betrübt zu Máriska.
„Ich sehe genau, dass mit dir etwas nicht stimmt. Wieso wollte dein Bruder nicht mit dir reden oder sonst etwas machen? Spazieren gehen? Da sitzt er lieber im Stall und grübelt über sein Leben. Habt ihr etwa schon gestritten?“
Die Gräfin wendete bittend ihren Blick zu der Haushälterin, während sie Kartoffeln schälte.
„Lass ihn doch. Er ist das Alleinsein gewohnt, vielleicht ist das alles etwas viel Trubel. Laufend muss er sich rechtfertigen, weil Dominik ihm nicht traut oder etwas wissen will. Dann kommen wir mit Erwartungen, dass er uns etwas erzählt; manchmal schauen die Kinder ihn an, als wenn er aus der Fremde kommen würde und allerhand für Geschichten parat haben müsste.“
„Vor allem Bianká“, sagte Orsolya und lächelte ihre Ziehtochter an. Diese runzelte die Stirn und bemerkte:
„Lass das bloß nicht Dominik hören.“
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