65Entscheidend ist also für die Abgrenzungzwischen Kontrahierungszwang und diktiertem Vertrag die Art und Weise des Zwangs zur Vertragsbegründung. Auf die mit dem Vertragszwang verfolgten Ziele kommt es nicht an. Solche diktierten Verträge sind in der heutigen Rechtsordnung nur noch außerordentlich selten. Entscheidendes Kriterium ist der ersetzende Hoheitsakt, sodass keine Willenserklärungen mehr erforderlich sind. Bekanntestes Beispiel hierfür ist der sog. diktierte Vertrag nach der Scheidung einer Ehe. Dann kann nämlich der Richter zugunsten eines der geschiedenen Ehegatten ein Mietverhältnis an der bisherigen gemeinsamen Wohnung selbstständig begründen, vgl. § 1568a BGB. 93
3.Vertragsschluss aus sozialtypischem Verhalten?
Beispiel:Die Stadt Bochum gestattet der F-GmbH, den Parkplatz „Neue Mitte“ zu bewirtschaften, insbesondere die Bewachung der dort abgestellten Kraftfahrzeuge gegen Entgelt zu übernehmen. K stellt ihren Wagen dort ab und erklärt dem Parkwächter, sie wünsche keine Überwachung und zahle deshalb auch nichts. – Ist ein Vertrag zustande gekommen?
66Neben der vertraglichen Begründung eines Schuldverhältnisses durch eine Einigung der Parteien gibt es besondere Situationen, in denen eine solche Vereinbarung nicht feststellbar ist und man gleichwohl versucht, einen Vertrag zu konstruieren, um auf diese Weise die entsprechenden Rechtsfolgen zu erreichen. Das vorgestellte Beispiel ist dafür wegweisend, denn man hat lange überlegt, wie man derartige Fälle dogmatisch erfassen kann. Eine Zeit lang war die sog. „Lehre vom faktischen Vertrag“verbreitet. Diese besagte, dass Verträge auch ohne das Vorhandensein von konkreten Willenserklärungen allein durch sozialtypisches Verhalten – eben: „faktisch“ – zustande kommen könnten. Auf diese Weise wurde die eigentliche vertragsdogmatische Konstruktion umgangen, nämlich das Vorliegen von Angebot und Annahme gem. §§ 145 ff. Dahinter stand die Vorstellung, dass man nur durch die Herbeiführung einer zumindest „faktischen“ Vertragseinigung ausreichend Schutzmechanismen zugunsten der Betroffenen zur Verfügung habe, da die deliktische Haftung oder die Anwendung der Vorschriften zur ungerechtfertigten Bereicherung bzw. zur Geschäftsführung ohne Auftrag nicht ausreichten. 94Ein solcher Rekurs auf ein sozialtypisches Verhalten als Ersatz für die eigentlich erforderlichen Willenserklärungen stellt im Ergebnis den Versuch dar, Massengeschäfte des täglichen Lebens rechtlich einfacher zu handhaben. Die Vorstellung, es sei lebensfremd, dort immer Willenserklärungen anzunehmen, führte im Ergebnis dazu, dass wie im Beispielsfalle ein Vertrag zustande kommt: Die Bereitstellung des Parkplatzes stellt ein Angebot dar, und zwar eine Offerte an einen unbestimmten Personenkreis ( ad incertas personas 95). Die erforderliche Annahme war nach dieser Lehre vom faktischen Vertrag ebenfalls gegeben, da K tatsächlich den Parkplatz nutzt – unabhängig davon, was sie sagt.
67Diese Vorstellung von einem Vertragsschluss allein aus sozialtypischem Verhaltenund die Lehre vom faktischen Vertrag, wurden jedoch auch von Beginn an abgelehnt. Gegen diese Lehre ist zum einen einzuwenden, dass sie keine Stütze im BGB findet. 96Insbesondere der Allgemeine Teil des BGB kennt diese Form des Vertragsschlusses nicht. Vielmehr ist grundsätzlich davon auszugehen, dass für einen Vertragsschluss – mit Ausnahme des sog. diktierten Vertrags 97– immer zwei Willenserklärungen erforderlich sind.
68Entscheidender ist jedoch, dass diese Lehre vom faktischen Vertrag im Ergebnis auch nicht erforderlichist. Denn die maßgeblichen Fälle lassen sich auch mit den anerkannten Mitteln des Zivilrechts lösen. So ist die Lehre vom faktischen Vertrag im Beispielsfall deshalb nicht notwendig, da man ohnehin davon ausgehen kann, dass der im Einzelfall erklärte Wille des Abnehmers unbeachtlich ist, wenn und weil er mit dem äußeren Verhalten unvereinbar ist. Im Ergebnis ist die Erklärung der K deshalb unbeachtlich, weil sie sich zu ihrem eigenen Verhalten in Widerspruch setzt: protestatio facto contraria . 98Eine weitere Möglichkeit mit diesen Situationen rechtlich umzugehen, bildet der Rückgriff auf konkludentes Verhalten. Denn für das Vorliegen einer Willenserklärung ist ja nicht erforderlich, dass die Erklärung explizit nach außen hin erfolgt. Sie kann auch konkludent erfolgen. 99Dies wird insbesondere in den sog. Massengeschäften des täglichen Lebens der Fall sein. Wer beispielsweise einen Bus benutzt, wird konkludent damit zu verstehen geben, dass er einen Transportvertrag abschließen möchte. Etwas anderes kann er dann nicht geltend machen, weil gemeinhin bekannt ist, dass eine solche Beförderung nicht in einem rechtsfreien Raum stattfindet, sodass jeder, der einen Bus betritt und nutzt, weiß, dass damit eine Willenserklärung auf Abschluss eines Transportvertrags erfolgt. Nicht anders kann auch der Empfänger eine solche Verhaltensweise verstehen, und die Sicht des Empfängers ist gem. §§ 133, 157 entscheidend. Die Konstruktion des faktischen Vertrags ist also entbehrlich und mangels Einbindung in das System des Allgemeinen Schuldrechts abzulehnen. 100
II.Die Einschränkung der Inhaltsfreiheit durch die AGB-Kontrolle
Literatur:Vgl. die Nachweise bei Boecken , W., BGB Allgemeiner Teil, Rn. 297; sowie Becker, F., Die Reichweite der AGB-Inhaltskontrolle im unternehmerischen Geschäftsverkehr aus teleologischer Sicht, JZ 2010, 1098 ff.; Erm, D., Die ergänzende Vertragsauslegung auf der Rechtsfolgenseite einer AGB-Inhaltskontrolle, JR 2013, 543 ff. Grünberger, M., Der Anwendungsbereich der AGB-Kontrolle, JURA 2009, 249 ff.; Hamann, W./Rudnik, T., Formulararbeitsverträge auf dem Prüfstand (Teil 1 und 2), JURA 2009, 335 ff. und 486 ff.; Hau, W./Eichel, F., AGB-Recht und Kollisionsrecht – Ein Problemaufriss –, AD LEGENDUM 2010, 84 ff.; Klocke, D. , Die systematische Interpretation von Allgemeinen Geschäftsbedingungen im Lichte unwirksamer Vertragsklauseln, JURA 2015, 227; Löhnig, M./Gietl, A., Grundfälle zum Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, JuS 2012, 393 ff.; Lorenz, S./Gärtner,F., Grundwissen – Zivilrecht: Allgemeine Geschäftsbedingungen, JuS 2013, 199; Neideck, P. , Die Einbeziehung der AGB in die Fallbearbeitung, JA 2011, 492 ff.; Niebling, J ., AGB-Recht – Aktuelle Entwicklungen zu Einbeziehung, Inhaltskontrolle und Rechtsfolgen, MDR 2014, 636 ff.; Peter, C., Haftungsklauseln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, JURA 2015, 121; Petersen, J. Die Einbeziehung Allgemeiner Geschäftsbedingungen, JURA 2010, 667 ff.; Schmidt, H., AGB-Recht in der Fallbearbeitung, AD LEGENDUM 2010, 95 ff.; ders., Einbeziehung von AGB im unternehmerischen Geschäftsverkehr, NJW 2011, 3329 ff.; Süß, T. , Das Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen, AD LEGENDUM 2013, 211; Wendland, Das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen in der Fallbearbeitung, JURA 2018, 866 und JURA 2019, 41 und 486.
Klausuren: Kadner Graziano, T./Landbrecht, J. , Vertragsübernahme und AGB-Kontrolle im Dreipersonenverhältnis, JURA 2014, 514; Sagan, A. , Die Renovierungspflicht hat Grenzen, JURA 2013, 616; Sauter, A./Karl, C, Anfängerklausur – Zivilrecht: Minderjährigenschutz und AGB – Der minderjährige Student, JuS 2013, 423; Weber, C./Gräf, S. , Verbummelter Vertragsschluss beim Grundstückskauf, JA 2014, 417.
69Bereits angesprochen wurde, dass die Vertragsfreiheit besonders auch im Hinblick auf die Inhaltsfreiheit eingeschränkt wird. Dazu ist der Gesetzgeber auf unterschiedliche Art und Weise vorgegangen. Zum Teil hat er diese Einschränkungen an die Personen geknüpft, die einen Vertrag schließen – das ist dann der Fall, wenn es um sog. Verbraucherverträge geht. Zum Teil hat er jedoch die Inhaltsfreiheit in all denjenigen Fällen beschränkt, in denen eine Vertragspartei der anderen bestimmte inhaltliche Vorgaben machen möchte, nämlich durch Allgemeine Geschäftsbedingungen. Beide Fälle sind mittlerweile im Allgemeinen Teil des Schuldrechts eigenständig geregelt. Die besonderen Vertriebsformen im Rahmen des Verbrauchergeschäftes in den §§ 312–312 f und ihre Besonderheiten, die zu einer Einschränkung der Inhaltsfreiheit führen, werden eigenständig in § 16 bzw. in dem Lehrbuch zum Verbraucherprivatrecht behandelt. Die Verträge unter Einbeziehung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen finden ihre Regelung in den §§ 305–310. 101
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