„Danke für den tollen Vormittag, meine Süße!“, höre ich noch, da tritt er auch schon ein paar Schritte zurück.
Ich möchte nicht gehen, aber ich muss. Er fehlt mir sobald ich im Wagen sitze und ich muss mich zwingen nicht wieder zu ihm zu laufen und mich in seine starken Arme zu werfen. Komisch, so etwas habe ich noch mit keinem anderen Mann erlebt. Nur Colin hatte bisher diese Anziehungskraft auf mich. Auf der Fahrt nach Hause fällt mir ein, dass ich ihn noch gar nicht gefragt habe, was ihn hier in diese Kleinstadt verschlagen hat oder was er eigentlich beruflich macht. Ich muss ihn unbedingt danach fragen und ich habe keinen Zweifel daran, dass ich ihn wiedersehen werde, aber bis abends höre ich erst mal nichts mehr von Colin und arbeite konzentriert.
Am Mittwochmorgen steht er schon mit zwei Bechern Kaffee vor dem Coffeeshop, als ich ankomme. Lächelnd reicht er mir meinen Caramellatte, bevor er zur Begrüßung seinen Mund leicht auf meine Wange legt.
„Hast du Zeit?“, fragt er.
Ich kann nur nicken. Was hat dieser Mann nur an sich, dass ich in seiner Gegenwart ständig atemlos bin? Und wieso fühle ich mich so magisch von ihm angezogen? Schweigend gehen wir los, dieselbe Runde durch den Hafen wie gestern. Wir betrachten die Schiffe, die dort liegen und unterhalten uns so entspannt, als würden wir uns schon ewig kennen. Heute Morgen ist es nicht so warm, wie die letzten Tage und ich schaudere unter dem kühlen Wind.
„Ist dir kalt?“, fragt Colin und legt mir freundschaftlich den Arm um die Schulter.
„Komm her, ich wärme dich!“
Er zieht mich näher zu sich, als uns Leute entgegenkommen und ich genieße seine Wärme und das Gefühl in seinem Arm zu sein. Ein angenehmes Kribbeln breitet sich in mir aus. Wir spazieren wieder stundenlang durch die Stadt und reden. Zwischendurch bleiben wir stehen oder setzen uns kurz auf eine Bank. Und die ganze Zeit bleibt sein Arm auf meiner Schulter. Es ist, als wolle er mich nicht wieder loslassen. Gegen Mittag bringt Colin mich zu meinem Wagen. Er muss sich verabschieden, hat noch einen wichtigen Geschäftstermin. Gerade will ich endlich fragen, was er beruflich macht, da sagt er: „Am liebsten würde ich bei dir bleiben. Ich mag mir gar nicht vorstellen, jetzt arbeiten zu gehen. Können wir uns heute Abend wiedersehen?“
Er guckt mich bittend aus seinen faszinierenden Augen an, nimmt meine Hände in seine und streichelt mit den Daumen sanft über meine Handrücken. Die Berührung fährt mir direkt in den Bauch. So etwas habe ich schon seit … ja, seit vier Jahren nicht mehr erlebt. Seit jenem Abend mit ihm. Dem Abend, über den wir noch immer nicht gesprochen haben, obwohl er die ganze Zeit zwischen uns steht. Wir müssen endlich darüber reden was damals passiert ist. Vielleicht ist ein Treffen heute Abend keine schlechte Idee. Ich hole tief Luft.
„Okay, heute Abend.“
Ich schaue ihm in die Augen, als er sich langsam zu mir vorbeugt. Er sieht mich an, als wolle er um Erlaubnis fragen für das, was er gleich tun wird. Ich kann mich nicht rühren, obwohl ich weiß, was kommt. Ich habe schreckliche Angst davor, schaffe es aber auch nicht, einen Schritt zurückzutreten. In Zeitlupe senkt sich sein Mund auf meine Lippen. Er küsst mich. Ein kleiner, fast schon keuscher Kuss, aber mir wird heiß von Kopf bis Fuß. Mühsam kann ich ein Aufstöhnen unterdrücken, als er sich mir viel zu schnell wieder entzieht.
„Ich muss los, meine Süße“, flüstert er, seine Stirn an meine gelegt.
„Wir sehen uns später. Soll ich dich abholen? Um sieben?“
„Nein!“, beeile ich mich zu sagen, „Schick mir einfach eine SMS, wo ich hinkommen soll. Ich fahre gern selbst. Und jetzt ab mit dir, sonst kommst du noch zu spät. Wir sehen uns dann um sieben.“
Ich schiebe ihn von mir und steige schnell ins Auto. Das wäre beinahe schiefgegangen. Fast hätte ich ihm meine Adresse gegeben. Er darf nicht wissen, wo ich wohne, bevor ich nicht mit ihm gesprochen habe.
Ich bin so aufgeregt. Colin hat einen Tisch in einem noblen Restaurant direkt an einer Felsklippe über dem Meer reserviert. Ich stehe frisch geduscht vor meinem Kleiderschrank und frage mich, was zum Teufel ich anziehen soll. Ich bin eher so der Jeans-und-T-Shirt-Typ und gehe normalerweise nicht so schick weg. Nach langem hin und her entscheide ich mich für ein türkises Sommerkleid mit einer weißen Strickjacke dazu. Die Farbe betont meine sommerliche Bräune und passt zu meinen grün-blauen Augen. Meine Haare lasse ich offen in großen Locken bis auf den Rücken fallen. Ich trage meistens einen einfachen Pferdeschwanz oder einen unordentlichen Knoten, weil es praktischer ist, aber heute kommt es mir so, zu diesem schicken Restaurant, einfach passender vor.
Ich treffe pünktlich ein und Colin erwartet mich schon auf dem Parkplatz vor der Tür. Ich habe das Gefühl, seine Augen glühen, als er mich von oben bis unten ansieht.
Er nimmt mich in den Arm und flüstert mit rauer Stimme: „Du bist so wunderschön! Am liebsten würde ich hier sofort mit dir verschwinden!“
Ich halte die Luft an und merke wie sich die mittlerweile vertraute Wärme bei seinen Berührungen, gemischt mit einem Gefühl der Angst in mir breit macht. Da hat er mich schon wieder losgelassen und führt mich zum Eingang. Beim Hineingehen legt er mir eine Hand auf den unteren Rücken. Meine Haut fängt an zu kribbeln und ich fühle mich sicher und beschützt.
Nachdem man uns an unseren Tisch in einer Nische mit wunderbarem Blick auf das Meer gebracht hat, kommt der Kellner mit den Speisekarten. Wir bestellen unser Essen und dazu einen Rotwein, den Colin ausgesucht hat. Nachdem der Kellner gegangen ist, um unsere Bestellungen weiterzugeben, unterhalten wir uns entspannt. Es ist so leicht mit Colin zu reden. Er hat an allem Interesse, ist sehr intelligent und hat einen ganz wunderbaren Sinn für Humor. Er fragt mich nach meiner Arbeit als Autorin und meiner Familie. Familie … Jetzt ist wohl der Moment der Wahrheit gekommen, denke ich. Ich merke, wie ich mich innerlich anspanne und tief Luft hole, um ihm etwas zu sagen, was ich schon längst hätte machen sollen.
„Bist du glücklich?“
Ich bin so überrascht von seiner Frage, dass ich ihn erst nur schweigend anstarre. Langsam sickern seine Worte zu mir durch und verdrängen, was ich ihm gerade erklären wollte.
Ich denke darüber nach. Bin ich glücklich? Mit meinem Leben? Ich glaube, ich bin mittlerweile zumindest zufrieden. Ich verdiene durch meine Bücher jetzt keine Millionen, aber es reicht zum Leben. Ich habe nicht viele Freunde hier im Ort, eigentlich nur meine beste Freundin Jules, die allerdings gerade für ein halbes Jahr beruflich in Japan ist. Trotzdem kenne ich genug Leute hier, um immer menschlichen Kontakt zu haben, wenn mir danach ist. Meine Eltern und mein Bruder wohnen 160 Meilen entfernt in Boston, trotzdem versuchen sie mir zu helfen, so gut es eben auf diese Distanz geht, wie auch diese Woche, damit ich mein Buch fertigschreiben kann. Ihnen fiel es, nach allem was vor vier Jahren passiert ist, sehr schwer mich hierher ziehen zu lassen. Sie konnten meine Entscheidung nicht verstehen, aber eigentlich habe ich selbst es nie bereut. Ja, ich glaube, ich bin so glücklich, wie ich es sein kann.
„Wo bist du, Annie? War die Frage so schwer? Oder zu persönlich?“, seine Stimme dringt leise in mein Bewusstsein.
„Was? Nein …, ich meine, doch …“, stottere ich, noch halb in meinen Gedanken versunken. „Doch, ich glaube, ich bin glücklich. Warum fragst du?“
„Du wirkst manchmal so weit weg, nachdenklich, wie in einer anderen Welt.“
Zum Glück rettet mich in diesem Moment der Kellner, der unsere leeren Teller mitnimmt. Schnell wechsele ich das Thema. Mir ist der Mut vergangen, ihm mein Geheimnis anzuvertrauen.
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