„Nein, im Ernst. Du bist mir nach jenem Abend einfach nicht aus dem Kopf gegangen. Ich bin eigentlich nicht der Typ für One-Night-Stands, erst recht nicht mit Frauen, deren Namen ich noch nicht einmal weiß. Ich habe damals versucht, dich zu finden, aber du warst verschwunden. Keiner kannte dich oder wusste, wo du bist. Ich hatte ja auch nur deinen Vornamen – es ist doch dein richtiger Vorname?“
Auf einmal guckt er so fragend wie ein Hundewelpe, dass ich lachen muss.
„Ja, ich heiße wirklich Annie. Annie Briggs.“
„Sehr angenehm, Annie Briggs. Ich bin Colin Mitchell“, sagt er mit einem Lächeln, das mein Herz klopfen lässt. Colin heißt er also. Ich habe viel darüber nachgedacht, wie er wohl heißen mag. Colin passt zu ihm. Auf einmal ist meine innere Anspannung verschwunden. Ich genieße es hier zu stehen, in der morgendlichen Sonne, neben ihm und zu wissen, er ist meinetwegen gekommen. Colin sieht mich an, mustert mein Gesicht mit seinem durchdringenden Blick aus den stahlgrauen Augen. Vielleicht kann ein kleiner Flirt meinen Tag heute noch verschönern, denke ich als sich mein Mund automatisch zu einem Lächeln verzieht.
„Ich würde dich ja gerne auf einen Kaffee einladen, aber da war ich wohl zu spät“, bemerkt Colin mit Blick auf meinen To-go-Becher in der Hand.
„Hast du stattdessen Lust auf einen Spaziergang durch den Hafen?“
Auf einmal werde ich wieder unsicher. Ich schaue auf meinen Kaffee.
„Das ist nett, danke. Aber ich muss weiter“, ziehe ich mich zurück und will mich umdrehen. „Annie, bitte. Geh nicht. Gib mir wenigstens deine Telefonnummer. Ich will nicht nochmal vier Jahre brauchen, um dich wieder zu finden.“
Ich zögere. Es gibt einfach zu viel, was er nicht über mich weiß. Zu viel, was ich ihm irgendwann erklären müsste, wenn wir uns wiedersehen würden. Aber ich kann ihn nicht einfach hier stehen lassen. Vier Jahre lang habe ich ihn immer wieder vor Augen gehabt. Jedes Wort, jeden Blick, jede Berührung von ihm in Gedanken noch einmal erlebt. Vier Jahre lang hatte er für mich keinen Namen. Und jetzt? Ich weiß, es wird nicht besser, wenn ich jetzt einfach gehe. Ich hätte sogar das Gefühl, wieder vor ihm wegzulaufen. Ich kann nicht zurück zu meinem Leben vor unserem Wiedersehen, kann ihn nicht wieder ausblenden, wie die letzten Jahre.
Colin.
In Gedanken sage ich wieder seinen Namen. Was ist schon eine Telefonnummer? Versuche ich mich zu beruhigen. Er wird sowieso nicht anrufen. Außerdem stehe ich nicht im Telefonbuch, er kann also meine Adresse nicht herausfinden. Es sei denn ich gebe sie ihm selbst. Nur eine Nummer. Und wenn er wider Erwarten doch anruft, kann ich immer noch sehen, was weiter passiert.
„Okay“, sage ich und gebe ihm meine Telefonnummer. Er speichert sie in seinen Kontakten und grinst mich augenzwinkernd an.
„Danke! Was für ein toller Tag! Noch nicht einmal neun Uhr und ich habe schon die Nummer einer wunderschönen Frau bekommen.“
Ich rolle lachend mit den Augen. Wunderschöne Frau? Er übertreibt maßlos! Als hätte er meine Gedanken gelesen, beugt er sich zu mir runter und flüstert mir mit rauer Stimme ins Ohr: „Du bist wirklich wunderschön, Annie. Besonders, wenn du lachst.“
Bevor ich verarbeitet habe, was er gerade so ernst gesagt hat, nimmt er mich freundschaftlich in den Arm und drückt mir einen schnellen Kuss auf die Wange.
„Ich ruf dich an! Verlass dich darauf.“
Dann lässt er mich los und ich erinnere mich daran, dass ich ja gesagt habe, ich müsse gehen.
An der Ecke drehe ich mich noch einmal um. Er steht noch an der Promenade und schaut mir nach, der Wind zaust seine Haare und mir bleibt mal wieder die Luft weg, so gut sieht er aus. Er winkt mir kurz zu und ich gehe weiter. Ganz in Gedanken bei ihm fahre ich nach Hause.
Dort angekommen merke ich, dass ich vergessen habe einkaufen zu gehen. Na ja, dann müssen die Reste in meinem Kühlschrank für heute ausreichen. Ich muss ja nur mich versorgen.
Den Rest des Tages über versuche ich mir einzureden, dass ich nicht auf seinen Anruf warte. Warum sollte Colin mich auch anrufen? Wir haben uns ja heute Morgen erst gesehen. Also setze ich mich vor den Computer und schreibe weiter. Es läuft gut, irgendwie verliere ich mich voll in meiner Geschichte, obwohl mir so viel durch den Kopf geht. Bis zum Nachmittag habe ich das Kapitel abgeschlossen. Ich muss es nur noch überarbeiten, aber das hat bis morgen Zeit. Ich fahre den Computer herunter und denke wieder an heute früh zurück. In Gedanken gehe ich das Treffen noch einmal durch. Findet er mich wirklich schön? Wenn nicht, warum hat er es dann gesagt? Aus Höflichkeit? Andererseits hat er mir ja schon einmal gesagt, dass ich durchaus sehenswert sei, und ich weiß ja, wohin das damals geführt hat …
Ich verbringe den Nachmittag auf meiner Veranda mit meinem Liebesschmöker. Diesmal ohne einzuschlafen. Abends beschließe ich, doch noch kurz zum Supermarkt zu fahren und meinen leeren Kühlschrank zu füllen. Als ich wiederkomme habe ich einen Anruf in Abwesenheit von einer unterdrückten Nummer, ich habe mein Handy zu Hause vergessen. Mist, sollte Colin tatsächlich angerufen haben? Obwohl wir uns vorhin erst gesehen haben? Nein, wahrscheinlich war das nur irgendein Werbeanruf oder jemand hatte sich verwählt, beruhige ich mich selber, bevor ich wieder ins Grübeln verfalle.
Am nächsten Morgen mache ich mich auf den üblichen Weg zu meinem geliebten Caramellatte. Als mein Kaffee frisch auf dem Tresen des Coffeeshops steht und ich gerade danach greifen will, legt sich eine große Hand auf meine Schulter.
„Guten Morgen, Annie!“, höre ich Colins Stimme.
Ich zucke zusammen und er nimmt sofort seine Hand weg.
„Ich habe dich schon wieder erschreckt. Entschuldige! Das scheint eine schlechte Angewohnheit von mir zu werden.“
Ich atme tief durch und drehe mich langsam zu ihm um.
„Nein, ist schon okay“, sage ich, „Ich habe nur nicht damit gerechnet, dich hier zu sehen.“
„Ich habe dich gestern Abend nicht erreicht, als ich angerufen habe, deshalb dachte ich mir, ich versuche es heute Morgen wieder hier. Hast du Zeit, deinen Kaffee im Sitzen zu trinken?“ Ich überlege kurz. Ein Kaffee, was kann das schaden? Mein Kapitel ist fertig, heute ist erst Dienstag und ich habe noch bis Freitag Zeit zum Überarbeiten, bevor meine Verlegerin es bekommt.
„Ja, ich habe ein bisschen Zeit“, antworte ich nervös lächelnd.
Ich finde einen Tisch in einer ruhigen Ecke, während Colin sich auch mit Koffein versorgt und sich dann zu mir setzt. Einen Moment lang mustert er mich eindringlich über den Rand seines Bechers, als wollte er meine Gedanken lesen, während er vorsichtig an seinem heißen Kaffee nippt. Ich rutsche unruhig auf meinem Stuhl hin und her und versuche seinem Blick auszuweichen.
„Was ist los? Entspann dich! Wir trinken nur einen Kaffee zusammen“, sagt er leise und legt seine Hand auf meine. Die Berührung soll wohl beruhigend sein, bewirkt aber bei mir eher das Gegenteil. Er merkt es wohl, denn er nimmt seine Hand wieder weg. Komisch, ich habe sofort das Gefühl, als würde etwas fehlen, und ich spüre noch immer die Wärme, die er hinterlassen hat.
Ich atme tief durch und sage: „Es ist einfach nur lange her, dass ich mit einem Mann Kaffee trinken war.“
Ich war noch nie gut in ersten Dates und irgendwie kommt es mir so vor, als wäre das hier eins. Er zieht nur fragend die Augenbrauen hoch, sagt aber nichts dazu. Stattdessen fragt er mich, was ich beruflich mache. Ich erzähle ihm, dass ich Autorin bin und diese Woche einen Abgabetermin habe. Wir reden über unsere Geschmäcker bei Büchern, die Stadt und den Hafen mit seinen Touristen und andere unverfängliche Themen. Die Zeit rennt viel zu schnell. Nach unserem Kaffee gehen wir noch ein bisschen am Hafen spazieren. Irgendwie habe ich das Gefühl, als wollten wir uns beide nicht voneinander trennen. Nach einem Sandwich auf die Hand zum Mittagessen muss ich leider langsam nach Hause, um heute noch ein bisschen zu arbeiten. Colin bringt mich zu meinem Wagen, der noch immer beim Coffeeshop steht. Er nimmt mich zum Abschied kurz in den Arm und gibt mir wieder einen Kuss auf die Wange. Als er hochkommt, funkeln seine Augen und einen Moment glaube ich, er will mich küssen. Richtig. Auf den Mund. Ich halte die Luft an, aber da ist der Moment auch schon vorbei und er schiebt mich Richtung Auto.
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